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Die Sommeruniversität findet im Juli und August in Haus Villigst und vom 18. bis 22. September im Klosterhof Sankt Afra, Meißen statt. Wie jedes Jahr sind die Seminare für Studierende, Promovierende, Altvilligster*innen und Gäste aller Fachrichtungen geöffnet.
Themen neu kennenzulernen, fachliche Vertiefungen zu schaffen und eigene Perspektiven einzubringen, befördert den intensiven Austausch, der Merkmal der Villigster Sommeruniversität ist. Damit die Seminare nicht nur eine interdisziplinäre Fragestellung bieten, sondern auch fächerübergreifende Diskurse entstehen können, seien hiermit alle Interessierten explizit ermutigt, sich anzumelden.
Übersicht der Seminare 2023 nach Rubriken
- A THEOLOGIE – RELIGION – KIRCHE
- B ZWISCHEN NATUR UND TECHNIK
- C GESELLSCHAFTSANALYSE UND HANDLUNGSPERSPEKTIVEN
- D DIMENSIONEN VON WISSEN UND DENKEN: KONSTRUKTION UND KRITIK
- E UMGANG MIT GESCHICHTE: ZUGANG ZU KULTUREN
- F KUNSTWELTEN UND ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG
- ORGANISATORISCHE HINWEISE UND ANMELDEBEDINGUNGEN
Jahresthema 2023: Zwischen_Räume
Das Licht der Dämmerung färbt die Seite meines Buches orange. Ich blicke auf, die Landschaft zieht an mir vorbei und der Waggon neigt sich sanft in eine Kurve. Es ist nicht mehr weit, bis wir Villigst erreichen, noch zwei oder drei Stationen. Zwischen zwei Orten rase ich durch den Raum; doch hier ist es ruhig. Zwischen zwei Türen vorne und hinten, die die Wagen voneinander trennen. Zwischen zwei Fenstern links und rechts, die die Luft in zwei Hälften trennen und den Fahrtwind nicht hineinlassen. Meine Fahrt teile ich mit ein paar Mitreisenden in den Reihen neben mir. Ich sitze irgendwo dazwischen, zwischen all dem. Meine Gedanken machen sich auf die Suche.
Es sind Orte in der Schwebe, diese Zwischen_Räume. Sie entstehen zwischen zwei größeren Instanzen: der Natur und der Technik, der Wissenschaft und dem Glauben, zwischen Stadt und Land, Freiheit und Sicherheit, Gestern und Morgen. Zwischen diese starren Paare zwängt sich der Zwischen_Raum und hinterfragt die Binarität, die Zweiteilung. Wie ein Keil kann der Zwischen_Raum Verbundenes aufspalten, oder er bildet die Brücke, auf der sich Gegensätze begegnen. In ihm richten sich Orte des Diskurses, des Austausches und der Zuflucht ein. Und doch ist auch immer wieder zu beobachten, wie sich Druck, ein Vakuum oder Spannung im Dazwischen aufbaut und entlädt.
Kunst und Literatur loten schon früh die Dimensionen von Zwischen_Räumen aus: Die Romantik findet sie im Motiv der Schwelle, barocke Künstler*innen untersuchten den Bereich zwischen Leben und Tod, der Expressionismus den zwischen Krieg und Natur. Aktuelle Filme und Serien verhandeln Coming-of-Age-Erzählungen, zeigen die unsichere Zeit zwischen Kindheit und dem Erwachsensein. Im Zwischen_Raum versteckt sich das Unerklärliche. Zwischen uns und einem Gemälde, dem Schauspiel und einem Publikum. Dieser Raum, der zwischen den Rezipierenden und dem Kunstwerk entsteht, wird oft als Ästhetik bezeichnet. Ein Zwischen_Raum des Wirkens, der die Farbe auf einer Leinwand in ein Kunstwerk verwandelt, der Dinge mit Bedeutung auflädt, sodass sie uns begeistern, verärgern, berühren, antreiben. Die Naturwissenschaften hingegen nähern sich dem Zwischen_Raum mit Methoden und Instrumenten, versuchen, ihn zu vermessen und greifbar zu machen. Dabei bewegen sie sich in unterschiedlichen Dimensionen: von Lichtjahren zwischen Galaxien bis zum Abstand, in dem die Elektronen um den Atomkern kreisen. Mithilfe von Quantenkommunikation können Informationen versandt werden, ohne dass sie unterwegs jemand abrufen kann. Sie durchqueren Zwischen_Räume verschlüsselt, wobei die Sicherheit durch physikalische Gesetze gewährleistet ist. Auch ein Raum, dem aller Inhalt entzogen wird, ist manchmal notwendig, um die Geheimnisse der Materie zu erforschen. Beispielsweise lassen sich im Vakuum eines Teilchenbeschleunigers Teilchen nah an die Lichtgeschwindigkeit bringen und auf diese Weise ungewollte Kollisionen verhindern.
Woran auch immer geforscht wird, wissenschaftliches Arbeiten erfordert stets ein umfangreiches Fachwissen und Erfahrung. Untersuchungsmethoden werden entwickelt, Studien durchgeführt, Erkenntnisse gewonnen und mit anderen Wissenschaftler*innen diskutiert. Von Fachdiskursen ausgehend, versucht der Wissenschaftsjournalismus Komplexität durch Vereinfachung abzubauen und eine Brücke von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu alltäglichem Sprechen und tagesaktuellen Inhalten zu schlagen. Die Stabilität dieser Brücke und ihre Glaubwürdigkeit ist dabei auch abhängig davon, dass die Falsifizierbarkeit von Thesen und die Fragilität von Prognosen mitkommuniziert wird, dass der immerwährende Zwischen_Raum zwischen aktuellem und zukünftigem Wissen nicht hinter Zahlen und Fakten verschwindet.
Doch das Dazwischen beschränkt sich nicht nur auf irdische, von Menschen gestaltete und vermessene Räume, wie die der Kunst und der Wissenschaft. So bedeutet Glaube in jeglicher Form eine Erweiterung dieses Raumes, ein Oszillieren zwischen Weltlichkeit und dem Himmlischen. Gerade wo der physische Raum sich den Menschen zu entziehen scheint – wie in der Weite des Meeres oder der Wüste – kann er zu einem Ort der Erfahrung von Spiritualität werden. In Sakralbauten manifestiert sich dann, was theologisch gedacht und praktisch gelebt wird. Hier findet Zusammenleben statt, hier spannt sich zwischen Menschen ein Raum, in dem Gott im Dazwischen, in den Beziehungen gedacht werden kann.
In Religionen kommt dem Zwischen_Raum eine besondere Bedeutung zu. Nach der christlichen Vorstellung ist es Jesus, der den Raum zwischen Heute und dem möglichen Morgen eröffnet: Mit ihm fängt das Reich Gottes an und befindet sich seither in einem Zustand zwischen »schon« und »noch nicht«, zwischen Hoffnung und Verwirklichung. Rituale, die fast alle Religionen kennen, stehen ebenfalls im Dazwischen: Sie haben die Funktion, in Zeiten des Übergangs dem »nicht mehr« und »noch nicht« eine Gestalt zu geben, und werden dadurch lebendig, dass die Gläubigen die überlieferten Elemente mit Sinn füllen. Genau an diesem Übersetzungsprozess traditioneller Praktiken in eine moderne Gesellschaft kristallisieren sich zentrale Herausforderungen für Glaubensgemeinschaften und ihre Institutionen. Was geschieht beispielsweise, wenn Beerdigungsrituale auf eine marktförmig organisierte Bestattungsbranche treffen? Wie gestalten Glaubensgemeinschaften diesen Zwischen_Raum, an dessen Polen jeweils mit einer weltlichen und einer religiösen Logik operiert wird?
Ich laufe durch das Eingangstor in den Innenhof von Haus Villigst. Vor mir die alte Eiche, unter meinen Füßen Pflastersteine. Ich hocke mich hin und sehe die feinen Ritze zwischen den Steinen, ungeplantes Zwischensein. Kleine Pflanzen schieben hier ihre Stängel bis ans Tageslicht. Trotz der widrigen Bedingungen bleiben sie. Oder gerade deshalb. Hier haben sie ihre Nische gefunden. Hier können sie sein.
Zwischen_Räume sind auch dort zu finden, wo Teile sich nicht zusammenfügen lassen, wo Lücken bleiben und das Leben sie füllt. Keine Orte der Leere, sondern der Entfaltung. Raum für Nischen zu lassen, ist auf unterschiedlichen Ebenen eine Art, Diversität zu ermöglichen.
So ist in der Stadtplanung die Natur im Zwischen_Raum menschlicher Bebauung oder Versiegelung von großer Bedeutung: Stadtbäume können Schadstoffe aus der Luft binden, und Parkanlagen haben an heißen Sommertagen eine kühlende Wirkung auf ihre Umgebung. Mit Blick auf die Herausforderungen des Klimawandels und den Rückgang der Biodiversität stellt sich so die Frage, ob und wie sich Städte nachhaltiger gestalten lassen und wie dieser Zwischen_Raum für die Natur erweitert werden kann. Zugleich finden sich in den Nischen der Städte die gesamte Bandbreite und Diversität des Menschseins ein. Zum Beispiel können Leerstände in Innenstädten durch Kunstprojekte angeeignet werden, selbstverwaltete Räume ermöglichen es jungen Menschen, ihre eigenen Ideen umzusetzen und die Welt um sich herum mitzugestalten. Für marginalisierte Menschen kann dies eine Möglichkeit sein, Safer Spaces zu schaffen, um in der Gemeinschaft Halt und Trost zu finden. Auf diese Weise bieten Räume das Potenzial für Empowerment und gemeinsame Utopien.
Stadtbilder sind jedoch nicht nur durch gegenwärtige Bauwerke und die sie umgebende Vegetation geprägt, sondern erzählen immer auch von ihrem Gewordensein und ihrer Entwicklung. Materielle und immaterielle Abdrücke der Menschheit auf der Erde deuten Historiker*innen als Spuren der Zeit und blicken dabei auch in die Zwischen_Räume der Geschichte. Zeitzeug*innen markieren hierbei oft die Schwelle zwischen historischen Ereignissen und eigener Erfahrung. Die »oral history« ist der Versuch der Geschichtswissenschaften, einen Raum zwischen der öffentlichen Geschichtsschreibung und dem Erleben von Individuen zu öffnen. Das Beispiel von Zeitzeug*innen verdeutlicht, dass die Gegenwart dynamisch ist. Im Erleben der Menschen ist die Gleichzeitigkeit von Räumen und Zugehörigkeiten möglich. Globale Migrationsbewegungen erzeugen hierbei auf der Mikroebene transnationalen Biografien, die sich unter anderem zwischen dem Aushalten der physischen Trennung von Freund*innen und Familie und dem Kontakt zu neuen Menschen konstituieren. Auf der Makroebene entsteht hier eine kulturelle Hybridität, die wechselseitige Spiegelung und Beeinflussung von Kulturen, deren Grenzen flüssig werden und neu zur Verhandlung stehen.
Die Gestaltung und Regulierung von Prozessen wie diesen finden mitunter im großen Zwischen_Raum der politischen Entscheidungsfindung statt. Um unterschiedliche Interessen auszutarieren, müssen Koalitionen geschmiedet, das Gewicht einzelner Partikularinteressen sorgfältig überprüft und Kompromisse gefunden werden. Dabei gilt es in der zwischenmenschlichen Begegnung genauso wie in der Öffentlichkeit, demokratische Ideale und Ansprüche mit ihrer realpolitischen Praxis zu vergleichen und immer wieder zu fragen: Ab wann wird die Kluft zu groß? Wie viel Dazwischen wollen und können wir als offene, plurale Gesellschaft aushalten und wo ziehen auch wir Grenzen?
Ich komme aus dem Seminarraum hinaus in den Flur. Die Nachmittagssonne scheint durch die großen Fenster auf das weiße Geländer der Treppe. Gedanken und Ideen schwirren mir durch den Kopf, bewegen sich zwischen alten Antworten und neuen Fragen, zwischen bekanntem Wissen und neuem Verständnis. Menschen finden sich auf den Treppenstufen in Gruppen zusammen. Wir begegnen uns im Dazwischen.
Zwischen_Räume sind überall zu finden. Aber man muss genau hinschauen und die eigene Aufmerksamkeit auf die Themen richten, die im Schatten von großen Geschehnissen schnell übersehen werden. Sie bieten uns Alternativen zum binären Denken, können Dualismen aufsprengen und ebnen neue Wege, um zu handeln. Deshalb lasst uns in noch Unbekanntes eintauchen, versteckte Nischen erkunden, Differenzen beobachten und: dazwischen gehen!
Der stipendiatische Programmausschuss