Fastenimpulse

Fastenimpuls von Dr. Markus Hentschel, Werkspfarrer und Studienleitung

»Es standen aber beim Kreuz Jesu seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria Magdalena. Als nun Jesus die Mutter sah und dabeistehend den Jünger, den er liebte, sagte er zur Mutter: Frau, sieh, dein Sohn. Dann sagte er zum Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm der Jünger sie zu sich.«

So einfach ist es nicht mit der Aufforderung, im christlichen Glauben und Leben keine Alleingänge zu unternehmen. Das haben seine Eltern und Geschwister Jesus nämlich auch vorgeworfen, sich der von der Tora geforderten familiären Solidarität (Exodus 20, 12: »Ehre Vater und Mutter«) zu entziehen. Jesus weist die Ansprüche seiner Familie an ihn schroff zurück (Markus 3, 33) und bricht aus den familiären Bindungen auf eine Weise aus, dass die Verwandten urteilen. »Er ist verrückt geworden«. (Mk 3, 21).

Auch im Johannesevangelium, das die Beziehungen Jesu zu seiner Familie insgesamt weniger konfliktreich darstellt als das Markusevangelium, beginnt die Geschichte Jesu mit seiner Mutter Maria damit, dass er sie herunterputzt. »Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?« (Johannes 2,4), kontert er auf die ihre Aufforderung, auf der Hochzeit zu Kana für neuen Wein zu sorgen.

So weit, so wenig verbunden, wenig solidarisch.

Aber, wie die Szene unter dem Kreuz zeigt, bleibt Jesus nicht dabei, sich menschlicher Verbundenheit zu entziehen. Zwischen der Zurückweisung seiner Mutter und der Sorge um sie, die dem Gebot entspricht, sie zu ehren und sich im Alter um sie zu kümmern, liegt für Jesus die Erfahrung einer neuen Gemeinschaft außerhalb der Blutsverwandtschaft. »Wer tut, was Gott will, das ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.« (Mk 3,35)

Diese Erfahrung machen auch die Menschen, die Jesus nachfolgen: den Verlust ursprünglicher, auch familiärer Bindungen und Sicherheiten und den Gewinn neuer Bindungen und Sicherheiten. »Jeder, der etwas zurückgelassen hat – Haus, Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Felder, um mir zu folgen und um das Evangelium weiterzusagen, wird es hundertfach neu bekommen: Haus, Brüder, Schwestern, Mutter, Kinder und Felder. Das gilt schon jetzt in dieser Zeit«. (Mk 10, 29-30)

Mit Menschen verbunden sein, das setzt in Jesu Sinn voraus, Verbindungen darauf hin zu prüfen, ob sie dem Reich Gottes entsprechen, der Solidarität mit den berühmten »Zöllnern und Sündern«. Mit Menschen in Jesu Sinn verbunden sein, das bedeutet, auch in der »Neuen Familie« der Glaubenden aufmerksam zu sein auf die mit jeder Form von Familie und Gemeinschaft einhergehenden Gefahren und die Zumutung zurückzuweisen, es gäbe einen Anspruch der Familie auf das einzelne Mitglied. Dieser Anspruch ist der Kern dessen, was sich dann im Extrem als sexualisierte Gewalt äußert. Dagegen ist darauf zu beharren: Jedes Familienmitglied ist immer frei für Alleingänge. Das gilt selbstverständlich auch im Evangelischen Studienwerk. Der »Villigster Geist« mit seinen familiären Momenten steht ebenso in Gefahr der Übergriffigkeit.

Aber schließlich bedeutet die Verbundenheit mit Menschen in Jesu Sinn auch, so wie die Szene unter dem Kreuz vor Augen führt, für Menschen, die potentiell von Diskriminierung, im Fall von Jesu, von Altersdiskriminierung betroffen sind, einzutreten und Verantwortung zu übernehmen. Würden Sie, würdet ihr es für weit hergeholt halten, wenn ich meinen würde, es werde in nicht zu ferner Zukunft die Empfehlung geben, einen Teil des sog. Pflegenotstandes dadurch zu beheben, dass alten Menschen der Suizid ermöglicht wird, bevor sie pflegebedürftig werden, also präemptiven Suizid als Handlungsoption anzusehen? Bettina Schöne-Seifert, Professorin für Medizinethik an der Universität Münster tut genau dies in ihrem Artikel (Süddeutsche Zeitung, 13.3.2024, Nr. 61, S. 12) »Legitime Exit-Strategie?« Sie beantwortet die Frage mit: Ja.



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