Fastenimpulse

Fastenimpuls unseres Stipendiaten Juray Sücker

»Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel. Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter. Mein Freund antwortet und spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her!« (Hohelied 2, 8-10, in Auswahl)

»A hot God if ever there was one!« So kommentiert der irische Religionsphilosoph Richard Kearney das biblische Hohelied. Das Lied der Lieder ist wahrlich ein zutiefst erotischer Text eingebettet in einen theologischen Zusammenhang. Dies fasziniert und verstört gleichzeitig. Wie soll man an diesen Text herangehen? Lange hat man in der Auslegung versucht, das Erotische des Hohelieds zu entschärfen. Es seien nur Metaphern. Die verstörende, zum Teil sehr eindringliche Erotik (z.B. 5,4; 7, 3-4) wurde als ein Bild der göttlichen Liebe für die Menschen gedeutet. Wir könnten also ruhig bleiben, denn es handele sich bloß um Bilder von etwas Immateriellem, Göttlichem. Aber was wäre eine Metapher ohne eine innere Verbindung zwischen dem Bild und dem Abgebildeten? Wenn es sich um eine theologische Aussage handelt – wie soll man dann anhand dieser Schrift Gott anders als »hot« bezeichnen? Und was ist sie, wenn nicht eine tiefe Anerkennung einer sehr fleischlichen Seite der menschlichen Liebe? Wir tun also gut daran, die Erotik im Text ernst zu nehmen und die Verflechtungen zwischen dem Theologischen und dem Zwischenmenschlichen im Auge zu behalten.

Was sagt uns diese biblische Schrift über die Liebe? Ein wichtiger Aspekt, den ich hier betonen will, ist ihre subversive Kraft. André LaCocque, ein französischer Alttestamentler, erwähnt, dass man sich im Kontext des Buches nicht vorstellen kann, dass das liebende Paar, um das es geht, verheiratet wäre. Genau im Gegenteil – an mehreren Stellen ignorieren oder sprengen sie sogar die damaligen gesellschaftlichen und institutionellen Normen der Liebe. Nun, dass die erotische Liebe eine subversive Kraft gegen festgefrorene Strukturen besitzt, wäre an sich eine Binsenwahrheit. Viele klassische Werke der Weltliteratur handeln von diesem Thema. Das Besondere hier ist jedoch, dass uns damit gesagt wird, dass es so gut ist, von Gott gewollt, ja, dass Gott selbst uns mit dieser rebellischen Kraft liebt. Gottes Liebe ist subversiv und sie beweist es immer wieder. Sie wirkt gegen die Wächter einer festgefrorenen Moralität.

Nun geht es in diesen Impulsen um ein Herüberkommen. Wie sollen wir die Liebe in diesem Kontext verstehen? Die Liebe ist ein Begehren (désir nach Emmanuel Levinas). Dieser Begriff wurde lange bloß negativ gesehen. Wie ein Bedürfnis (besoin) wurde das Begehren als ein negativer Zustand des Geistes gedeutet, der etwas entbehrt und dann aufhört, wenn man dieses etwas bekommt. Man hatte genug Schwierigkeiten, diesen Begriff in einen Zusammenhang mit Gott zu bringen, der ja per se vollkommen sein und nichts entbehren sollte. Das Hohelied war natürlich ein Hindernis in diesem Vorhaben. Aber diese negative Deutung verkennt die eigentliche Dynamik des Begehrens in der Liebe. Weit davon entfernt, auf einen endgültigen Zustand aus zu sein, stellt das Begehren vielmehr eine Bewegung ohne Abschluss dar, eine Öffnung auf den/die Andere/n hin. Auch die Ehe sollte eine solche unaufhörliche Bewegung beinhalten, sie muss für die radikale Andersheit der Partnerin oder des Partners offen sein, wenn sie nicht in einem bloßen Bedürfnis nach Zusammenleben verkümmern soll. Diese Dynamik ist die eigentliche Gegenkraft gegen die Verhärtungen der Routine.  

Das »Komm rüber« im erotischen Zusammenhang des Hohelieds bezeichnet also die subversive Bewegung des Begehrens. Diese Bewegung kann natürlich auch einen sexuellen Akt beinhalten, aber vor allem bedeutet sie eine radikale Öffnung für die Transzendenz – sei es die der Anderen, sei es die Gottes. »Komm rüber« heißt also ernst gemeint, dass man sich für das, was nicht zurückkommt, was nicht auf mich rückführbar ist, öffnen soll. »Komm, mein Geliebter, lass uns aufs Feld hinausgehen. […]
Dort will ich dir meine Liebe schenken.«



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