Predigten

»Villigst ist für mich nicht nur eine Förderung, sondern eine Tür zu einem Netzwerk von klugen Köpfen und inspirierenden Persönlichkeiten, die meinen Bildungsweg bereichern.«
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Tintenpisser. Das wusste ich. Tintenpisser, so nannten die Kumpels da unten alle Kopfarbeiter. Alle, die da oben übertage in Büros zu sitzen pflegten, Markscheider, Bergbeamte, Bergrechtsassessoren, Buchhalter, Bergwerksdirektoren. Und ähnliche. Alles Tintenpisser. Selbst mein Vater, Ingenieur und untertage Obersteiger, nutze das Wort am Telefon mit Wonne, wenn er mit seinen Steigern in der Grube über die da oben sprach.
Und dann kamen die Semesterferien. Vorlesungsfreie Zeit. Anders als sonst fuhr ich nun nicht morgens um acht Uhr zur Universität. Sondern früh um fünf zum Pütt. Setzte mich nicht vorm ersten Seminar in die Cafete, Flugblätter lesend. Sondern stand in der Kaue. Zog Jeans und T-Shirt am Haken hoch an die Decke. Und versah mich stattdessen mit Pütthemd, Helm und Grubenanzug, mit Schienbeinschützern und Sicherheitsschuhen.
Nahm nicht Platz am Klapptisch im Hörsaal. Sondern stand auf dem Förderkorb und sauste mit 8 Metern pro Sekunde tausend Meter in die Tiefe. Lief nicht an Regalen entlang durch die Bibliothek und wählte Lektüre. Sondern stapfte zwei, drei Kilometer durch die Strecke, bei 29 Grad, durch Wettertüren hindurch, mit der Grubenlampe am Helm. Saß nicht in der UB und exzerpierte Texte, sichtete Quellen und Sekundärliteratur. Sondern schraubte mit kiloschweren Schraubenschlüsseln an einer 50 Meter langen Teilschnittmaschine herum. Oder schippte mit der Schaufel Fels und Geröll zur Seite, wo die Strecke sich gehoben hatte.
Statt Proseminaren, Vorlesungen, Fachschaftsversammlungen: Acht Stunden Schicht, dann Seilfahrt und Waschen.
Ich hatte Glück. Tintenpisser nannten sie mich nicht. Das war für ihre eigenen Leute übertage, die eben mit Stift und Tinte an Texten, Zahlen, Zeichnungen saßen.
Aber „Wat macht der Student?“, das kam fünf oder achtmal pro Schicht. Meist mit feiner Ironie, weil sie wussten, dass ich da unten nicht zu Hause war und deutlich dünnere Oberarme hatte. Manchmal besorgt – „Wat macht der Student“ – wenn irgendwo Gefahr zu drohen schien, Maschinen rangierten oder wir auf Förderbändern fuhren. Ich gab mein Bestes und sie waren gelassen, auch wenn ich mich mal blöd anstellte. „Hömma, Student…“ Meine Welt war eine andere, das wussten sie. Und ich wäre bald auch wieder weg, wenn die Kohle verdient war. Und die Uni wieder rief. Gelegentlich fragte einer bei der Butterpause auf dem Holzstoß: „Wat machste eigentlich sons…?“ Und dann erklär mal „Theologie studieren“.
56 Jahre lang, liebe Studienwerks-Jubiläumsgemeinde, wurde hier auf Zeche Zollern Kohle zutage gefördert. Zu jener Zeit, von 1899 bis 1955, unter weit härteren, gefahrvolleren Bedingungen, als ich sie Anfang der 80er auf Achenbach nur für ein paar Monate erlebte. Heute ist der Pütt Museum. Und für uns der Ort, das Studienwerk zu feiern. Begabten-, statt Kohleförderung.
Aber das passt. In mancherlei Hinsicht.
„Auf den Bergmann kommt es an.“
Als man vor 75 Jahren, liebe Jubiläumsgemeinde, als man 1948 das Evangelische Studienwerk gründete, war das der Spruch, war das die Losung der Zeit. „Auf den Bergmann kommt es an.“
Mit allen Mitteln versuchte man zu jener Zeit, Männer für den Bergbau zu gewinnen. Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene hatten die Gruben – Gott sei Dank -verlassen. Hinterließen indes gewaltige Lücken in der Belegschaft. Händeringend suchte man Bergleute, mit großen Kampagnen, auf allen Kanälen. Also Radio und Zeitung, Insta lief noch nicht so. Flüchtlinge und Vertriebene fanden zu zigtausenden Arbeit untertage. Ausbildungssteiger schickte man in Schulen, um junge Hauer anzuwerben, mit Informationsveranstaltungen, Filmabenden, Vorkursen für Schulabgänger. Noch in den Trümmern schuf man steile Wohnungsbauprogramme, um Bergarbeiter samt Familien an die Ruhr zu ziehen.
Auf den Bergmann kommt es an. Das galt fürs ganze Land. Energie, sehr viel Energie brauchte die Wirtschaft, um aus den Trümmern heraus den Wiederaufbau zu leisten. Nichts war so wichtig wie billige Kohle, massenhaft billige Kohle – zum Überleben, zum Aufbau des Landes und großer Industrien.
81 Millionen Tonnen Steinkohle wurden hier an der Ruhr gefördert, 1948. In nur drei Jahren hatte man seit dem letzten Kriegstag die Fördermenge deutlich mehr als verdoppelt. Über 400.000 Menschen malochten jetzt wieder in den Gruben des Ruhrbergbaus. Mitte der 50er Jahre war es fast eine halbe Million.
Auf den Bergmann kommt es an. Das galt hier an der Ruhr.
Und eben hier an der Ruhr, und zwar direkt an der Ruhr, in Schwerte, in Villigst, ging man zu jener Zeit daran, ein Evangelisches Studienwerk zu gründen. Nicht in Münster oder Marburg, nicht in Heidelberg oder Tübingen. Hätte reichlich gute Gründe gegeben. Und aus manch anderen Gründen auch nicht in Weimar oder Wittenberg.
Nein, hier am Rand des Ruhrgebiets. Evangelisches Studienwerk Villigst.
Am Rande und vor der Kulisse dieser heute fast versunkenen Industrielandschaft. Unweit der zahllosen Zechen und Fördertürme, der Hütten und Hochöfen, der Maschinenfabriken, die wieder aufzubauen man sich anschickte.
Hier ging das los. Wo der Stahl gegossen und die Kohle gefördert wurde, wollte man: begabte Stipendiaten fördern. Kopfarbeiter. Und Kopfarbeiterinnen.
Die aber programmatisch jene andere Welt jederzeit im Kopf und vor den Augen halten sollten. Die Welt der Kumpels und Malocher, der Industrien und Fabriken. Werksemester. Von Anfang an war das Teil des Villigster Geistes. DNA des Studienwerks. Begabte fördern, sich der Wissenschaft zu widmen – und ihren Horizont zu öffnen – Richtung Förderturm, Hochofen und Fabrikgebäude.
Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter; aber es ist ein Herr. Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen. … Dies alles aber wirkt derselbe eine Geist, der einem jeden das Seine zuteilt, wie er will.
Wat macht der Student.
Das wussten die Kumpels vor Ort: Ganz für voll war ich da unten nicht zu nehmen. Eingeschränkt einsetzbar. Ihre sieben Sinne waren in 1000 Meter Tiefe schlicht intelligenter. Sie sahen mehr, hörten mehr, spürten mehr als ich in meiner Ahnungslosigkeit. Zu meinem Glück lotsten sie mich, manchmal ruppig, bei Bedarf um allerlei Unheil herum. Und grinsten dabei.
Und ich? Hab mich damit abgefunden. Der Mensch kann nicht alles können oder wissen. Und schon gar nicht auf Anhieb. Ich nicht. Ja bei Licht und am Tage betrachtet: Niemand. Und auch der Mensch als Spezies nicht.
Der Mensch kann nicht alles können oder wissen. Und schon gar nicht auf Anhieb.
Es war zehn Jahre schon vor dem Start des Studienwerks, tatsächlich 1938, dass der erste Forscher auf der Basis von gemessenen Temperaturen die globale Erwärmung der Atmosphäre bewies. Guy Stewart Callendar, Sohn eines Physikprofessors, von Kindesbeinen an vertraut mit der Thermodynamik, selbst Kraftwerksingenieur. Treibhauseffekt. Kopfarbeit mit Thermometer und Tinte. Ihm war das klar.
Den Kumpels vor Kohle untertage nicht. Mir auch nicht. So wenig wie dem Rest der Welt. Immerhin Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bekamen ab Mitte der 70er das Phänomen schon besser in den Blick. Seit den 90ern sind sich alle seriösen Forscherinnen einig: Was der Mensch verbrennt an Kohle, Torf, Öl und Gas, das heizt der Welt als CO2 verhängnisvoll dynamisch ein. Die Wissenschaft liefert. Mit Tinte oder digital.
Im Jubiläumsjahr des Studienwerks, 2023 – stehen die Folgen dieser Wahrheit beklemmend klar vor Augen. Sind täglich in den News.
„Durch unser Wissen unterscheiden wir uns nur wenig, in unserer grenzenlosen Unwissenheit aber sind wir alle gleich.“ Hat Karl Popper gesagt. Und für die Wissenschaft wie für den Rest des Lebens und der Welt geklärt: über Versuch und Irrtum und neuen Versuch und wieder einen Irrtum kommen wir schwerlich hinaus. Aber versuchen müssen es. Mit kritischer Vernunft, „die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden.“ Wie Sir Karl es komprimierte.
Vor 75 Jahren war nichts so wichtig, wie massenhaft billige Kohle. Das steht mal fest. Zum Überleben. Hunderttausende haben dafür Tag für Tag malocht, auch hier gleich unter uns. Viele haben ihr Leben verloren dabei, sind in den Gruben geblieben.
Und Ökonomen, Ingenieure, Architektinnen, Maschinenbauer, Chemikerinnen, Juristen, Raumplanerinnen, Geologen, Medizinerinnen und all die anderen Kopfarbeiterinnen haben ein Land, eine Wirtschaft, eine Gesellschaft damit konstruiert. Mit massenhaft billiger Kohle, braun oder schwarz, mit Öl und Gas und allem, was fossil zu greifen war. Es ging voran. Man weiß nur, was man weiß. Und kann sich eben irren. Manchmal schwer. Trial and error. Mehr kann der Mensch nicht tun. Aber versuchen, immer neu versuchen, müssen wir’s. Mit allen Gaben, die verfügbar, und allen Begabten, die zu fördern sind. Auf der Suche nach einer besseren Welt. Und im Wissen um die Möglichkeit des Irrtums. Mit der nötigen Demut.
Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter; aber es ist ein Herr. Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen.
Evangelisch ist ein Studienwerk, weil und wenn es aus dem Evangelium lebt. Aus einer Gewissheit, die dem Stand des Wissens und der Vernunft keineswegs und niemals widerstrebt. Gott bewahre.
Wir fördern Gaben und Begabungen, hohe Begabungen, seit 75 Jahren. Bekennen uns zu Wissenschaft, Vernunft und Forschung. Und eben zu dem einen Gott, der große Gaben schenkt – und der da wirkt alles in allen.
Viele Gaben, ein Geist. Wissenschaft. Glaube. Gesellschaft. Ist über die Einladung zum heutigen Festtag gesetzt.
Eben so: Zwischen Wissenschaft und Gesellschaft – Glaube. An die Wahrheit dieser guten Nachricht, an das Evangelium. Unglaublich.
Hömma, Mensch. Du bist, du lebst nicht nur von ungefähr. Sondern kommst – wie alles Leben und dies Universum – aus Gottes schöpferischer Liebe. Und dieser Gott, der kennt dich, wie du bist. Du wunderbares Katastrophenwesen. Krone der Schöpfung, tausendfach begabt. Und schon nach drei Seiten der Geschichte auf dem Holzweg. Schlange, Apfel, Sündenfall, das war’s dann mit dem Paradies. Und so geht das weiter, Menschenskind, Gott, kennt dich doch. Ein erster Mord nach drei, eine Flut von Freveln schon nach fünf Kapiteln, Sintflut, Untergang, und eigentlich Ende der Geschichte. Aber Gott will – immer – den nächsten Versuch. Gibt dich nicht auf, sondern schenkt dir das Wissen zum Leben. Gute Gebote, himmlische Weisung. Und du, Mensch, bleibst dir treu, vergeigst, versemmelst es mit schöner Regelmäßigkeit. Lernst nicht aus Katastrophen, nicht von Propheten. So bist du nun mal. In dich selbst verkrümmt. Bist und bleibst der alte Sünder.
Und was tut Gott? Der ist verrückt. Wird Mensch. Legt sich als Kind in eine Krippe. Weil er an dir, Mensch, einen Narren gefressen hat. Liebt dich so sehr. Mit deinen himmlischen Gaben. Und deinen teuflischen Abgründen. Die kennt Gott zur Genüge. Und kommt eben unter die Räder. Am Kreuz. Um den Tod für dich, Mensch, für dich hoffnungslosen Fall, in Grund und Boden zu lieben. Weil du leben sollst.
Also nutz deine Gaben. Gott will und schenkt den nächsten Versuch. Weil und obwohl du bist, wie du bist. Aus himmelweiter Liebe.
In evangelischer Gewissheit fördern wir Gaben und Begabungen. Himmelsgeschenke. Wohl wissend: der Mensch ist so, wie er ist. Eingeschränkt einsetzbar. Wissend und grenzenlos unwissend. Manchmal blind und taub wie der Student untertage. In jedem Fall: millionenfach divers. Manchmal genial. Und manchmal ein wunderbares Katastrophenwesen. Doch immer: Abgrundtief geliebt von Gott.
Also wage es zu wissen, Mensch. Und anzupacken. Die Welt braucht Kopfarbeit, braucht kritische Vernunft und sowieso Maloche, und immer den nächsten Versuch. Mit Tinte oder Presslufthammer.
Viele Gaben. Ein Geist. Und der Gott der Liebe. Übertage, untertage, im Himmel und auf Erden.
Glückauf.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn. Amen.