Monatsspruch

»Ich bin Villigst sehr dankbar dafür, dass sie nicht nur meine Forschungsaufenthalte im Ausland finanziert haben und dass durch die so ermöglichte Teilnahme an Konferenzen und Austauschformaten im Ausland, meine Forschungsergebnisse eine viel größere Reichweite bekommen haben.«
Monatsspruch Mai 2025
Die apokalyptischen Bilder v. a. des Ersten Testaments decken wirklich etwas auf. Dies ist ja der wörtliche Sinn der Apokalypsen: aufzudecken, was ist und was geschieht, wenn ein politisches System der Ungerechtigkeit herrscht, das sowohl militärische wie ökonomische wie ökologische Gewalt eben verheerende Gewalt einschließt.
Das, was bleibt, wo Gewalt herrscht, ist verbrannte Erde und ausgedörrtes Land. Pflanzen, Tiere und Menschen können nicht mehr leben. Das, was Gott mit seiner Schöpfung ermöglicht, nämlich dass Pflanzen, Tiere und Menschen fruchtbar sind und sich mehren, dass sie miteinander als Geschöpfe aus Gott leben und zugleich Leben schaffen, das annihiliert die Gewalt eines Systems, das auf der Ausbeutung aller natürlichen und sozialen Ressourcen beruht, eine Gewalt, die unsere Lebensform durchdringt und manchmal und in den Klimakatastrophen immer offensichtlicher manifest zu Tage tritt.
Apokalyptische Texte benennen und schildern das Unrecht und seine Folgen, für die zumeist niemand verantwortlich sein will. Apokalyptische Texte sind unbeliebt; viele reagieren darauf allergisch. Wer die Wahrheit sagt, wer unnachgiebig auf ökonomischer wie ökologischer Gerechtigkeit besteht, auf der universalen Gleichheit der Lebensrechte der Geschöpfe, muss mit der Abwehr derer rechnen, die von Ungleichheit profitieren. Dass Kirchen als NGOs zur Ehre Gottes des Schöpfers politisch sich äußern und agieren, ist ihre Pflicht.
Ich gedenke des verstorbenen Papstes Franziskus, indem ich den zweiten Abschnitt seiner am 24.5.2015 erschienenen Enzyklika »Laudato Si« zitiere:
»Diese Schwester [Erde, MH] schreit auf wegen des Schadens, den wir ihr aufgrund des unverantwortlichen Gebrauchs und des Missbrauchs der Güter zufügen, die Gott in sie hineingelegt hat. Wir sind in dem Gedanken aufgewachsen, dass wir ihre Eigentümer und Herrscher seien, berechtigt, sie auszuplündern. Die Gewalt des von der Sünde verletzten menschlichen Herzens wird auch in den Krankheitssymptomen deutlich, die wir im Boden, im Wasser, in der Luft und in den Lebewesen bemerken. Darum befindet sich unter den am meisten verwahrlosten und misshandelten Armen diese unsere unterdrückte und verwüstete Erde, die „seufzt und in Geburtswehen liegt“ (Röm 8,22). Wir vergessen, dass wir selber Erde sind (vgl. Gen 2,7). Unser eigener Körper ist aus den Elementen des Planeten gebildet; seine Luft ist es, die uns den Atem gibt und sein Wasser belebt und erquickt uns.«
Mit Papst Franziskus können wir beten:
»Wir preisen dich, Vater, mit allen Geschöpfen,
die aus deiner machtvollen Hand
hervorgegangen sind.
Dein sind sie
und erfüllt von deiner Gegenwart und Zärtlichkeit.
Gelobt seist du.
Sohn Gottes, Jesus,
durch dich wurde alles erschaffen.
In Marias Mutterschoß
nahmst du menschliche Gestalt an;
du wurdest Teil dieser Erde
und sahst diese Welt mit menschlichen Augen.
Jetzt lebst du in jedem Geschöpf
mit deiner Herrlichkeit als Auferstandener.
Gelobt seist du.
Heiliger Geist, mit deinem Licht
wendest du diese Welt der Liebe des Vaters zu
und begleitest die Wehklage der Schöpfung;
du lebst auch in unseren Herzen,
um uns zum Guten anzutreiben.
Gelobt seist du.«
Markus Hentschel
Monatsspruch April 2025
Mit dieser Frage ist der emotionale Kern der Emmaus-Geschichte berührt. Jesus begleitet nach seiner Auferweckung zwei Jünger, ohne dass sie ihn erkennen. Erst in der Rückschau, als er sich zuvor im Abendmahl offenbart hat, identifizieren sie den Unbekannten auf dem Wege mit Jesus, und zwar mit eben dieser Frage.
Die Emmaus-Jünger, so heißt es zu Beginn, »redeten miteinander von all diesen Geschichten.«
Die Männer, so traurig sie sind, lassen nicht davon ab, das zu tun, was in der Bibel fortwährend getan wird: erzählen. Wozu wir oft erst animiert werden müssen, nämlich Lebensgeschichten, nicht Erfolgs- und Prestigegeschichten, sondern Lebensgeschichten miteinander zu teilen, das ist für die Emmaus-Jünger Grundnahrungsmittel.
Die Bibel hält Dutzende von Lebensgeschichten in Erinnerung: Geschichten davon, wie Menschen glücklich wurden, aber ebenso davon, wie Hoffnungen zerstört wurden. So traurig und ohne Perspektive die Emmaus-Jünger sein mögen, sie vergessen ihre Hoffnungen nicht, auch nicht ihre größte Hoffnung: »Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde.« Das Unverständnis über das Ende der größten Hoffnung ist nicht das Ende des Erzählens, so als ob eine Kraft von jenseits der Hoffnungslosigkeit noch hilft, erzählend nach vorne zu leben.
Wenn die Jünger vom Verlust ihrer größten Hoffnung erzählen und nicht schweigen trotz des Bewusstseins, es ist alles vorbei, lassen sie ihr Leben nicht ohne Abschluss einfach liegen wie etwas unwiderruflich Zerbrochenes, sondern knüpfen erzählte Zeit ans Gebrochene an. Sie stellen ihr Leben in die Reihe der vielen Hoffnungs- und Verlustgeschichten der Bibel. Was sie erlebt haben ist genauso wichtig wie das, was Abraham und Sarah, Jakob und Joseph, Miriam und Mose widerfahren ist.
Aber der Verlust ihrer Hoffnung, und der ist ebenso schmerzhaft wie der Tod Jesu selbst, verdunkelt ihnen den Sinn der vergangenen Geschichte(n). Sie finden sich in ihnen nicht mehr zurecht.
»Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift eröffnete?« Jesus tröstet die Emmaus-Jünger nicht über ihren Verlust hinweg, er übt sich auch nicht in mitleidiger Einfühlung, sondern wird ihnen Hermeneut, deutet ihnen – nicht unmittelbar ihr Leben – sondern die zentralen Geschichten, deren Sinn ihnen abhanden kam. In einem Kursus konzentrierter Schriftauslegung, dem die Jünger folgen, ohne sich durch ihre Trauer davon abhalten zu lassen, wird ihr Leben in der Enge ohne Vergangenheit und Zukunft nach rückwärts wieder weit und nicht nur nach rückwärts. Das Herz brennt. Es lebt auf. Es geht von innen gegen die Erstarrung an, es schmerzt von neuem Leben. Es beginnt sich wieder zu weiten.
Wo dies geschieht, dass Lebensgeschichten erzählbar werden, dass Hoffnungen und Scheitern verknüpft werden können mit Hoffnungs- und Verlustgeschichten des großen Hoffnungsbuches, ist Jesus da. Verständlich, dass die Emmaus-Jünger den Unbekannten bitten: »Bleibe bei uns!«
Markus Hentschel
Monatsspruch März 2025
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Zitat aus der Bibel fast eine Torheit ist,
Weil es gegen so viele Untaten nichts vermag?
Der Erfolg der rechtsextremen AfD besteht ja nicht allein, nicht einmal vorwiegend in ihrem erwartbar (ich schreibe diesen Text am 19. Februar) sehr guten Wahlergebnis, sondern vielmehr darin, dass sie es vermocht hat, ihr Narrativ von der Notwendigkeit, die Fremden zu bedrängen, durchzusetzen.
Olaf Scholz (SPD) meint seine Politikfähigkeit dadurch unter Beweis stellen zu müssen, dass er seine Härte in der Migrationspolitik hervorhebt, 40.000 Abschiebungen, Steigerung der Abschiebungen um 70 Prozent seit Beginn seiner Amtszeit, niemand sei bislang schärfer gewesen als er.
Nicht ob das Bedrängen von Fremden Ausweis guten politischen Handelns ist, sondern lediglich das Maß der Bedrängnis steht zur Debatte.
Angesichts dieses Umstandes ist der Demonstrationsruf »Nie wieder ist jetzt« zu ändern in ein »Jetzt ist wieder«.
Der Austritt von Michel Friedmann aus der CDU, die Rückgabe des Bundesverdienstkreuzes des Holocaust-Überlebenden Albrecht Weinberg und des Künstlers Luigi Toscano, der mehr als 400 Holocaust-Überlebende porträtierte, die gemeinsame Erklärung jüdischer Institutionen in Deutschland gegen die AfD, die Warnung der Leiter der acht Stiftungen der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten vor einer Wahl der AfD sind keine vernachlässigbaren Petitessen, sondern zeigen das neue »Wieder« an.
Das Gebot, den Fremden nicht zu bedrängen, ist in Levitikus kein sektorales politisches Gebot, sondern ein fundamentales. Was im Grundgesetz zu Beginn mit Artikel 1 alle staatliche Gewalt verpflichtet, steht in Levitikus zum Schluss einer Reihe von Geboten, die allesamt dem Schutz von Schwachen dienen, Armen (19, 9-10), geringfügig Beschäftigten (19,13), körperlich Eingeschränkten (19,14), den noch nicht voll ausgewachsenen Pflanzen (19,23), den Alten (19,32).
Und schließlich dem Schutz derer, die auch noch der bedürftigste Einheimische unter sich zu wissen meinen könnte: den Fremden. Damit die Fremden nicht die bleiben, die unterliegen, unterlegt Levitikus 19 aller Politik ihren Schutz. Ohne diesen Schutz wird alles politische Handeln im Wortsinn substanzlos.
Bertolt Brecht konnte noch hoffen und bitten:
»Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht. «
Wir können mit Nachsicht nicht rechnen.
Markus Hentschel
Monatsspruch Februar 2025
In jüdisch-rabbinischer Tradition kann der Name Gottes mit dem Ausdruck »ha-Makom«, »der Ort«, wiedergegeben werden. Diese Bezeichnung verwendet die Übersetzung des Psalms 16 in der »Bibel in gerechter Sprache«.
Mit diesem Ausdruck, »ha-Makom«, ist Gott, so wie er/sie in diesem Psalm angesprochen wird, überaus treffend charakterisiert. Denn Gott wird in der Tat als ein Ort der Zuflucht, der Geborgenheit vorgestellt. »Ich berge mich in dir« (Vers 1).
Ja, mehr noch, Gott ist Ort nicht nur des Schutzes, sondern gutem Land gleich, auf dem alles gedeiht, was man zum Leben braucht, ja mehr noch, einem Land gleich, das über das Lebensnotwendige hinaus die Fülle des Lebens, die volle Lebensfreude bereithält.
An diesem Ort, in dieser Landschaft, gibt es, wenn man die Augen öffnet, nicht nur einen Weg des Lebens, nicht nur eine Straße, die zum Ziel führt, erst recht nicht nur den einzigen, womöglich engen Pfad zum Heil, die Landschaft Gottes breitet sich vielmehr weit aus und lädt dazu ein, sie in vielfältiger Weise zu durchschreiten, viele Wege des Lebens zu entdecken.
»Du lässt mich erkennen den Weg des Lebens.
Freude in Fülle liegt vor deinem Angesicht,
Beglückung ist in deiner Rechten immerdar.« (Vers 11)
Gott ist der Ort, an dem der Leib in Sicherheit wohnt, die Landschaft, in der Menschen vor Freude außer sich geraten können, der Land, in dem keine Gräber mehr geschaufelt werden müssen für die Toten, die Hingemetzelten, die Opfer der Gewalt. (Verse 9-10).
Dieser Ort Gottes, der Ort, der Gott ist, wartet darauf von Menschen, warum nicht auch von uns, aufgesucht und betreten zu werden. Oder mögen wir Menschen es nicht, woanders zu leben als in einer Nation, deren Souverän wir, das Volk sind, die gänzlich von uns gemacht und gestaltet ist? Brauchen wir mehr als das Glück ein Territorium, das wir verteidigen können, und für das Menschen geopfert werden, wenn es angegriffen wird? Sind wir Menschen darauf aus, dass uns der Schrecken gewährt wird, an denen aller Gefallen ist (Übersetzung Vers 3, E. Zenger), der Schrecken des Todes?
Halten wir es nicht aus, uns von Gott mit sich als dem Ort der Lebensfülle und Lebensfreude beschenken zu lassen? Brauchen wir statt des Glücks den Hass auf andere, statt des Friedens Hetze und Empörung?
Wollen wir einen solchen Gott überhaupt, der uns beunruhigt in der Nacht, wenn wir eigentlich mit gutem Gewissen schlafen wollen, der uns aber nicht in Ruhe lässt in seiner Abscheu vor Gewalt, der uns beunruhigt mit der Sehnsucht nach Frieden, der uns den Schlaf raubt, weil er uns das Leid anderer an die Nieren gehen lässt (Verse 7+8), weil auch andere diesen Ort brauchen? Wollen wir einen solchen Gott, der weit genug ist für das Glück, die Lebensfülle aller Menschen? Halten wir das aus, andere glücklich zu wissen mit uns auf den Wegen des Lebens in Gottes Land?
Markus Hentschel
Monatsspruch Januar 2025
Im Matthäusevangelium (5, 43-48) steht ergänzend und begründend »so werdet ihr Söhne und Töchter eures Vaters im Himmel sein; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (…) Ihr sollt also vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.«
Jesu Forderung gilt ohne und mit Bezug auf Gottes Handeln ohne Einschränkung. Er unterscheidet nicht zwischen persönlichen und politischen Feinden. Dass er gerade den politischen Feinden selbst so begegnet, wie er es von anderen fordert, zeigt seine Auseinandersetzung mit den Vertretern des römischen Imperiums, sein gewaltloser Weg zum Kreuz. Jesu Forderung kennt auch keine Einschränkung hinsichtlich ihrer Erfüllbarkeit. Zu tun, was Jesu fordert, ist in seinen Augen jedem/ jeder möglich, der/ die Gottes Reich erwartet. Das haben die Christ*innen der ersten Generationen genau so gesehen. Ihnen kam nicht in den Sinn, dieses Gebot für unerfüllbar zu halten. Wer Gottes Reich nicht erwartet, sondern auf die eigene Machtvollkommenheit setzt, der wird sich von Jesu Forderung nicht angesprochen fühlen. Aber dass Menschen Gott zurückweisen bedeutet nicht, dass Gott sie zurückweist. Das macht die Ergänzung des Gebotes der Feindesliebe im Matthäusevangelium deutlich.
Und Paulus, der in Römer 12 Jesu ethische Forderung eins zu eins übernimmt, übersetzt den ethischen Grundsatz in den theologischen Grundsatz: Gott hat sich mit uns versöhnt, als wir noch seine Feinde waren (Römer 5, 10).
Das Gebot der Feindesliebe ist mit keinen moralischen und pragmatischen Begründungen versehen, etwa, dass durch Feindesliebe die Welt menschlicher werde, dass sie politisch letztlich erfolgreicher ist als gewaltbasiertes Handeln, dass durch Liebe Feinde zu Freunden werden. Wenn es überhaupt eine Begründung gibt, dann die, dass Feindesliebe, konkret also, Feinden Gutes zu tun, Gott nachahmt und dadurch an seiner Vollkommenheit teilhat.
Die Bemühungen, auch die theologischen, das Gebot der Feindesliebe zu relativieren und zu umgehen, sind zahlreich. Beschämend ist es, wahrzunehmen, dass diejenigen christlichen, v.a. täuferischen Denominationen, die diesem Gebot uneingeschränkt Folge leisten wollten, selbst Gegenstand von Hass, Verfolgung und Häme wurden. Diese Häme reicht bis in die Gegenwart, indem die pazifistischen Folgerungen, die das Gebot der Feindesliebe durchaus nahelegt, als verantwortungsloses Einverständnis etwa mit der menschenverachtenden russischen Kriegsführung verunglimpft wird.
Das Ev. Studienwerk ist keine protestantische Kaderschmiede, in der alle auf jesuanische Ethik zu verpflichten wären, oder eine monastische Einrichtung mit einer (obwohl die Ortsgruppen immer noch Konvente heißen.) Aber solange es eben »evangelisch« ist, sollte sich das Studienwerk der womöglich ärgerlichen Radikalität Jesu stellen.
Euer Markus Hentschel
Monatsspruch Dezember 2024
Das Licht, mit dem wir leuchten und das Licht, mit dem Gott unsere Dunkelheit erhellt, ist das Licht der Güte. Diese Güte braucht keinen großen Aufwand, keine mühsame Vorbereitung, langwierige Planung, öffentlichkeitswirksamen Begleitung. Sie macht nicht viel her. Aber sie ist trotzdem der Glanz des Lebens, der von Gott ausgeht und das Leben von innen her zum Leuchten bringt.
»Entzieh dich nicht deinem Nächsten! Dann bricht dein Licht hervor wie die Morgenröte!« (Jes 58, 7-8) Fehlt diese Güte, hat das Folgen. Sie werden im Jesajabuch eindrücklich beschrieben: »Wir hoffen auf Licht, doch es bleibt finster. Wir warten darauf, dass es hell wird, doch wir tappen im Dunkeln. (…) Wir tasten uns voran, als hätten wir keine Augen. Wir stolpern am hellichten Tag, als würde es schon dämmern. Bei bester Gesundheit sind wir wie Tote.« (Jes 59, 9-10) So ließe sich auch in weiten Teilen die gegenwärtige politische Situation beschreiben. Dem Getöse von Propaganda und Lüge, der PR für Stärke ohne Erbarmen, dem Maximum an medialer Aufmerksamkeit entspricht ein Minimum an Menschlichkeit.
Die Lebensform Gottes ist die schlichter Güte und elementarer Gerechtigkeit.
An Beispielen dafür unter uns mangelt es nicht.
Ich bin zum Jahresende noch mal die Jahresberichte der Stipendiat*innen durchgegangen, für die ich zuständig bin. Ich habe viele Lichter gesehen. Natürlich auch, aber nicht einmal vorwiegend in den Erfolgen des Studiums als vielmehr vor allem im Engagement neben dem Studium: in der Hilfe für Migrant*innen durch Sprachkurse und Betreuung, in der Arbeit gegen strukturellen Rassismus, in der Auseinandersetzung mit moderner Sklaverei, im Einsatz für Frauen in der Kurdischen Freiheitsbewegung, in der medizinischen Unterstützung für Geflüchtete, in Schulworkshops zur Aufklärung über sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identitäten, in Musik als Entwicklungsressource für straffällig gewordene Jugendliche, im Nebenjob in der Drogenhilfe, in politischer Bildungsarbeit, in Kochkursen für Grundschüler*innen, im ambulanten Kinderhospizdienst, in der Mithilfe bei Tafeln, in der Begleitung von Ukrainer*innen, im Jugendsport, in der freiwilligen Feuerwehr, ….
Ich danke Euch Stipendiat*innen für eure Güte. Lasst Euer Licht weiter leuchten vor den Menschen! Der Glanz Gottes strahlt auf über Euch.
Markus Hentschel
Monatsspruch November 2024
Die Kritiker*innen christlicher Zukunftshoffnung verweisen und beharren darauf, dass »alles bleibt, wie es ist« (2 Petrus 3, 4). Dieser Einstellung wird die Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde entgegengesetzt. Neu müssen sie sein, weil unter den gegebenen Verhältnissen Gerechtigkeit unmöglich ist. Sind diese doch gerade durch die Fortdauer von Ungerechtigkeit gekennzeichnet.
Der Satz aus dem 2. Petrus-Brief sagt: »So kann es nicht bleiben.« So sprechen natürlich nicht diejenigen Menschen, die von den gegebenen Verhältnissen profitieren und deshalb ihre alternativlose Notwendigkeit behaupten.
»So kann es nicht bleiben« – der Ruf nach einer Revolution der Gerechtigkeit hat gleichwohl eine nicht zu übersehende Schattenseite. Geht doch im 2. Petrusbrief so deutlich wie kaum sonst im Neuen Testament die Ankunft des neuen Himmels und der neuen Erde mit der vollständigen Vernichtung des alten Himmels und der alten Erde, sprich der bisherigen Schöpfung einher. Das Neue entsteht in einem maßlosen Gewaltakt.
Ich kann den Ausdruck christlicher Zukunftshoffnung im 2. Petrusbrief nicht trennen von den mit ihr verbundenen Vernichtungsphantasien. Die Hoffnung auf Gerechtigkeit wird durch die Weise, wie sie herbeigeführt werden soll, für mich in Mitleidenschaft gezogen. Das wird auch an den gegenwärtig wieder dominanten Ansichten darüber liegen, wie politische Veränderungen sich vollziehen sollen: Neues – so wird behauptet – kann und soll erst dann werden, wenn »der Feind« vernichtet ist. Noch knapper formuliert: Gewalt wird nicht nur als eine, sondern als die Lösung dargestellt– aussenpoltisch und innenpoltisch.
Diese Vorstellung einer Zukunft durch Gewalt verdirbt mir die Hoffnung eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Ich möchte den bestehenden Himmel und die bestehende Erde, die gegenwärtige, gefährdete Schöpfung weder real noch in Hoffnungsbildern vernichtet wissen.
Die theologische und politische Vorstellungskraft möchte ich vielmehr darauf gerichtet sehen, was vor dem Verlust, dem Vergehen, Verschwinden, der Vernichtung bewahrt werden kann und wie dies geschehen soll.
In den Gleichnissen Jesu vom Reich Gottes bleibt wahrlich nicht alles beim Alten, die Welt steht Kopf, aber es wird immer noch, nein endlich richtig, gegessen und getrunken.
Markus Hentschel
Monatsspruch Oktober 2024
Diese Worte sind wie eine Oase des Friedens inmitten einer Wüste der Kriegsgewalt: Demütigung, Verlust an politischer Selbständigkeit, Hunger, Sterben von Kindern bis hin zum Kannibalismus unter der hungernden Bevölkerung (2,20; 4,10).
Die Klagelieder sind entstanden als Reaktion der im Lande verbliebenen Bevölkerung auf die Zerstörung Jerusalems und weiter Teile des Staates Judas um 587 v. Chr.
Angesichts der Berichte und Bilder gegenwärtiger Kriege wie im Sudan ist es nicht möglich, die Gewaltdarstellungen der Klagelieder auf historische Distanz zu halten. Möglich ist es, Gott damit nichts zu tun haben zu lassen. Sei es aus einer säkularen Grundhaltung heraus, sei es in der religiösen Überzeugung, dass Gott nicht unmittelbar geschichtlich handelt, oder wenn, dann nur von einem Handeln der Liebe gesprochen werden kann.
Diesen Luxus einer Naturalisierung und Neutralisierung des Leidens können sich die Sprecher*innen der Klageliedes nicht leisten: Gott selbst wird als Urheber des Unglücks angeredet: »Es war Gott wie eine Feind, verschlang Israel.« (2,5) »Gott mauerte mich ein, verschloss meinem Gebet den Weg.« (3,7f.) »Du, Gott, hast mich vom Heil verstoßen. Ich vergaß, was Glück ist.« (3,17)
Und dann dennoch inmitten der Klagen und Anklagen werden Gottes Gnadentaten, Erbarmungen und Treue benannt, fast beschworen.
An Gott festzuhalten und ihm treu zu bleiben ist wohl nur möglich, wenn es diese Oasen des Friedens gibt, diese Gnadenworte und Gnadenorte. Oasen, in denen die von Gott im Unglück Betroffenen eben nicht vollends ausgelöscht sind.
Die Klagelieder sind darum auch ein Zeugnis, dass nicht alle Opfer der Sieger mundtot zu machen sind.
In diesem Sinne möchte ich die Worte, dass »die Taten der Gnade Gottes nicht zu Ende sind« auf uns beziehen. Uns, die wir nicht zu den Besiegten gehören, sondern es uns immer noch leisten können, als geschichtliche Souveräne aufzutreten, können diese Worte als Mahnung zugeeignet werden, dass wir unsere Sinne, unser Denken und unsere Grenzen vor den Opfern eben auch unseres Handelns nicht dauerhaft zu verschließen vermögen. Von Gott zu sprechen, heißt auch der Leiden zu gedenken, für die wir (mit)-verantwortlich sind. Ohne solche Wahrnehmung würde unsere Gottes-Rede blasphemisch.
Exkurs zum Schluss: Während der Blockade Leningrads durch die deutsche Heeresgruppe Nord vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944 gab es bereits im November 1941 in Leningrad keine Katzen, Hunde, Ratten oder Krähen mehr. Die Bevölkerung hatte sie aus Mangel an Nahrungsmitteln gegessen.
Wenn Trump davon spricht, dass Haitanische Migrant*innen Hunde und Katzen verspeisen, so kann dies durchaus auch als faschistische Drohung verstanden werden, dass ihnen bald mehr nicht zu essen bleibt.
Die mitleidlose, entwürdigende Weise, in der über Menschen gesprochen wird, vor allem über Menschen, die als Gefahr für »unsere« Lebensweise ausgemacht werden, kann als Ankündigung dessen verstanden werden, dass sie in Zukunft nach den Worten die Taten der Entwürdigung erwarten.
Dr. Markus Hentschel, Pfarrer und Studienleiter
Monatsspruch September 2024
So an zentraler Stelle im Buch Jeremia in der Auseinandersetzung mit prophetischer Rede, d.h. Gottes Willen und Wort für eine Gegenwart, die Zukunft hat, aufzeigenden Rede.
Lasse ich »Gott« zunächst einmal aus dem Spiel, bzw. verstehe ihn/sie/es als ultimative Affirmation dessen, was ist, dessen, was wahrgenommen, was gedacht, was getan werden kann und soll, so stellt der Monatsspruch immer noch eine Provokation dar. So wie Propheten in den Krisenzeiten der Staaten Israel und Juda die Erfahrung machten, erwünscht ist und wohlwollend gehört werden Botschaften, die Bestehendes nicht infrage stellen, sondern sich auf den Nenner bringen lassen: weiter so, eure Gegenwart ist zukunftsfähig, es gibt Grund zur Hoffnung, so wie es ist, ist es im Prinzip gut und seid ihr im Prinzip gut. Oder verdichtet gesprochen: Gott ist nah; Gott kommt auf jeden Fall drin vor, in dem, was ihr seht, denkt und tut. Eben so wenig ist heute ein vermeintliches Zuviel an Kritik bestehender Wahrnehmungs- Denk- und Handlungsweisen Quell allgemeiner Wertschätzung. Solcher Kritik wird nicht nur ein Festhalten am Bestehenden und Gewohnten entgegengesetzt, sondern wie die letzten absurden Forderungen der FDP einer autogerechten Stadt deutlich wird, ein Zurück zum vermeintlich besseren Vergangenheit.
Gegen einen Gott, der nah ist, also Gott als ultimative Affirmation, dessen, was ist, handhabt, wäre prophetische Kritik ärgerlich a-theistisch, indem sie zum Ausdruck bringt: »Nein, in den Weisen eurer Wahrnehmung eures Denkens, Produzierens, Planens, Weiter Sos, ist Gott nicht drin, sie sind halt- und substanzlos, ohne Zukunft.«
Bekanntlich richtet sich die wenig goutierte Kritik der Minderheit der »Nein« sagenden Propheten gegen »Götzen«. Im Blick auf die beständig wiederholte Botschaft des Gottes, der da ist für die Gefangenen, Armen, Witwen und Waisen, für die, denen ein Existenzrecht verweigert wird, sind die »Götzen« die naturalisierten Mächte, diejenigen Wahrnehmungs-, Denk– und Handlungsweisen, die jenen Subalternen Gegenwart und Zukunft mit der Haltung verstellen: das geht nicht anders.
Insofern kann der Monatsspruch ein Prüfstein dessen sein, was wir im Evangelischen Studienwerk treiben.
M. Hentschel
Monatsspruch August 2024
Als bedenkliches Symptom fasse ich es auf, dass mir als erste Assoziation zum Monatsspruch die – vermeintliche – Kritik dieses Satzes in der geläufigsten Rezeption von Dietrich Bonhoeffers Referat vom April 1933 »Die Kirche vor der Judenfrage« einfiel, wonach die Aufgabe der Kirche darin bestehe, »nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.«
Bedenklich deshalb, weil sich auch mir wie selbstverständlich das Ansinnen aufdrängte, tätiges und im Zweifelsfall auch selbst gewalttätiges Einschreiten sei wohl angesichts der vielen Opfer von Gewalt das Gebot der Stunde. Denn war es nicht zudem derselbe Bonhoeffer, der es angesichts der Gewaltherrschaft Hitlers nicht bei gewaltfreiem Widerstand belassen wollte?
Und spricht nicht auch der Psalm 147 einige Verse weiter davon, dass der HERR die Frevler zu Boden stößt – und sich selbst also mit dem Verbinden von Wunden nicht zufrieden gibt.
Und schon wäre/ bin ich eingestiegen in eine Reflexion der Rechtfertigung von eben auch bewaffnetem Widerstand, Kriegstüchtigkeit, Waffenlieferungen etc. Eine Reflexion, die sich vielleicht noch wundert darüber, dass im Gedenken an das gescheiterte Attentat auf Hitler am 20. Juli die Widerstandskämpfer gefeiert, aber in der Reaktion auf das gescheitere Attentat auf Trump vom 13. Juli eine Diskussion über einen womöglich legitimen Tyrannenmord unterbleibt. (Anders im Wiener Standard vom 20.7. Tyrannenmord als allerletztes Mittel gegen Willkürherrschaft – Debatte – derStandard.at › Kultur)
Zunächst unterbricht Bonhoeffer selber im Referat von 1933 die Bereitschaft zum gewaltaffinen Denken. Denn das beliebte dem »Rad in die Speichen zu fallen« ist für ihn keineswegs eine nahliegende kirchliche/ christliche Aufgabe, sondern eine allenfalls ausnahmsweise und durch ein kirchliches Konzil allererst festzustellende Möglichkeit.
Sodann habe ich zur Kenntnis zu nehmen, dass es dem Psalm um ganzes Leben, um Fruchtbarkeit und die Ermöglichung von Leben (»den Tieren gibt er genug zu fressen. Krächzen die jungen Raben, füttert er sie«, Vers 6) geht und ausdrücklich um eine Kritik der Militarisierung auch der Tierwelt: »Die Stärke der Schlachtrosse beeindruckt ihn nicht. Die Muskelkraft der Kämpfer gefällt ihm nicht.« (Vers 10)
Schließlich werde ich darauf gestoßen, mein Denken, statt es um Gewalt kreisen zu lassen, darauf zu richten, wie ich – Vers 11 – Gott in Ehrfurcht begegne und auf seine Güte hoffe, wie Gott mit Liedern und Gesang statt mit dem Geschrei nach mehr Waffen zu begegnen sei. Wie ich mich also doch dem Monatsspruch stelle, dass es gut ist, Gott darin zu folgen, zerbrochene Herzen zu heilen und Wunden zu verbinden. Wer darin Gott nachahmte, nicht selektiv, nicht nach guten Verwundeten und schlechten Verwundeten, nicht nach Freund und Feind zu unterscheiden, bekäme wohl einiges an Kritik zu hören, mindestens, wie naiv denn das sei. Vielleicht sollte ich mich meiner Gutgläubigkeit nicht schämen.
Markus Hentschel
Monatsspruch Juli 2024
Um deutlich zu machen, worum es mir geht, spitze ich das Gebot zu. »Du sollst dich nicht der Mehrheit anschließen, selbst wenn sie im Recht ist.«
In der Mischna, der Sammlung der religionsgesetzlichen Überlieferungen des Judentums aus dem 3. Jahrhundert n.Chr., gibt es ein Traktat über Rechtsfragen bei Straftaten gegen das Leben. Im Prinzip kann die Todesstrafe ausgesprochen werden. Die konkreten Bestimmungen der Strafprozessordnung der Mischna laufen aber erkennbar darauf hinaus, dass ein Todesurteil nicht gefällt wird.
Die Zeugen z.B. sollen eindringlich darauf hingewiesen werden, dass, wenn sie sich in ihrer Aussage gegen den/ die Angeklagte nicht wirklich sicher sind, selbst Blut vergießen. »Wer eine Seele aus Israel vernichtet, vernichtet eine ganze Welt.« Ziel der Zeugenbefragung ist ausdrücklich deren Verunsicherung, weil es eben um Leben und Tod geht.
Das Richtergremium umfasst normalerweise 23 Personen. Wenn bei einem Urteil nur eine Person sagt: »Ich weiß es nicht«, selbst wenn 22 auf schuldig plädieren, muss das Gremium sukzessive auf 71 Personen erweitert werden. Und abschließend heißt es: »Sprechen sechsunddreißig schuldig und fünfunddreißig frei, debattieren diese gegen jene, bis einer der Schuldigsprechenden die Worte der Freisprechenden einsieht.« (Quelle: Die Mischna, Marix-Verlag, Wiesbaden 2005, S. 514)
Etwa weniger polemisch als in meiner Zuspitzung des Gebotes aus Ex 23 ausgedrückt. Bei elementaren Lebensfragen ist der Mehrheit mit Skepsis zu begegnen. Diese Haltung ist womöglich nicht mehrheitsfähig, obwohl das Gebot in Exodus 23,2 zugleich auf viel Sympathie treffen dürfte. Denn es rekurriert auf einen grundlegenden Impuls von Menschen, nämlich die Empörung gegen Ungerechtigkeit. Die Umsetzung dieser moralischen Intuition aber führt zu dem bekannten Problem, dass Empörung von Willkür schlecht zu unterscheiden ist. Daher: Sobald Gerechtigkeit bzw. der Impuls gegen Ungerechtigkeit in Recht (und politisches Handeln) übersetzt werden soll, kann man das Mehrheitsprinzip schwerlich umgehen. Außer man vertritt eine platonisch grundierte Form des »Philosophenkönigtums«, dass nur ein kleiner Kreis von Wissenden (Avantgarde, Experten, Elite) gerechte und zugleich rechtlich bindende Entscheidungen treffen darf.
Dennoch, trotz der womöglich nicht mehrheitsfähigen Skepsis gegen Mehrheiten: In den aktuellen politischen Debatten um die Kriege in der Ukraine und Israel-Palästina, um die Migrations-Problematik, um den Klimawandel, ja, wenn man ehrlich ist, um jede relevante, nämlich elementare Lebensfragen betreffende Debatte, ist Mehrheitsskepsis geboten. Denn es geht darum, die Debatte zu öffnen für »jede einzelne Seele«, die vom Tod bedroht ist. Politik im Licht des Gebotes von Exodus 23 und in der Zuspitzung, in der ich dieses Gebot verstehe, dient nicht der Herstellung und Verwaltung von Mehrheiten, sondern ist der Akt, durch den die Stimme noch ungehörter Minderheiten vernehmbar gemacht wird.
Markus Hentschel
Monatsspruch Juni 2024
Die Anweisung des Mose an das Volk Israel ist mir überaus sympathisch: stehen bleiben, zuschauen. Nicht aktiv werden, entscheiden, Verantwortung übernehmen, gestalten. Ruhe bewahren, statt sich in den Mainstream rastloser Tätigkeit zu begeben.
Einatmen, das Leben empfangen, sich Gutes tun lassen, glücklich sein, selig sein. »Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ’sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‘ könnte anstelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten.«(Theodor W. Adorno, Minima Moralia 208)
Im Prinzip läge dem Protestantismus diese Haltung freudiger Passivität so nahe wie sie Jesus liegt, denn selig, die reinen Herzens sind, sie werden Gott schauen. Insistiert evangelische Theologie doch darauf, dass Menschen das Heil empfangen und nicht aktiv daran mitwirken. Bekanntlich war aber die Angst vor der Muße und davor, als faul verschrien zu sein, oft größer als die Freude am geschenkten Heil. Die Empfänglichkeit musste möglichst umgehend in die Freiheit der Weltgestaltung, der Zuspruch des Heils umgehend in den Anspruch rechten Tuns übersetzt werden. Es galt, nicht den Anschluss zu verlieren ans Ideal selbstbestimmter Autonomie. »Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.« Selbst der Einspruch Schleiermachers, den Glauben von der schlechthinnigen Abhängigkeit/Empfänglichkeit der Menschen aus zu denken, verfing nicht. Von außen, etwa durch Hannah Arendts von der Geburtlichkeit her entworfene politische Theorie oder durch neuere anthropologische Entwürfe der Leiblichkeit und Verletztlichkeit von Menschen wurde evangelisches Ethik an diese ihr eigene Dimension der Leidentlichkeit erinnert. Angesichts der fatalen Folgen des rasenden Fortschritts gewinnt immer mehr Plausibilität was Adorno so ausdrückt: »Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen.« (Minima Moralia 207)
»Fürchtet euch nicht! Bleibt stehen und schaut zu, wie der HERR euch heute rettet! (…) Der HERR wird für euch kämpfen. Ihr aber sollt still sein.« (Ex 14, 13-14)
Damit könnte ich schließen und läge womöglich nicht falsch.
Ich muss aber eines sehr deutlichen Einspruchs gewahr sein, der im Buch Exodus der Aufforderung Mose, nicht aktiv zu werden, auf dem Fuß folgt und von Gott selbst erhoben wird. »Der HERR sprach zu Mose: Was schreist du zu mir? Befiehl den Israeliten, dass sie aufbrechen.« (Ex 14, 15)
Die dieser Aufforderung anschließende Erzählung betont dann in der Tat die Kooperation des Mose, des Volkes und Gottes bei der Rettung. Eine Kooperation, die auch die einer gemeinsamen Gewalttat ist.
Könnte dies eine Erklärung für den Widerspruch zwischen Moses Aufforderung und Gottes Einspruch sein? Sofern und solange Rettung und Heil auch Elemente der Gewalt an sich haben, sollen Menschen dies nicht verdrängen.
Und schließlich sind wohl Passivität und Aktivität nicht säuberlich auf den Empfang des Heils und die daraus folgende Weltgestaltung zu verteilen. Beiden ist beides eigen.
So wie eben beim Sabbatgebot, das in der Mimesis des Handelns Gottes Arbeit und Ruhe miteinander verbindet.
Markus Hentschel
Monatsspruch Mai 2024
Das ist Paulus so wichtig, dass er es später wiederholt. »Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf.« (10, 23). Kein Wunder. Christliches Leben ist ein Fest der Fülle, des »Alles«. Genauso, wie Jesus es im Blick auf Gottes Lebensmacht behauptet: »Alles ist möglich, dem der glaubt.« (Mk 9, 23)
Besonders der 1 Korintherbrief fließt von diesem »allen « über: Der/ die Glaubende »beurteilt alles und wird von niemandem beurteilt« (2,15). »Alles gehört euch.« (3,21)
»Es sei Welt oder Leben oder Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges, alles ist euer.« (3,22) »Alles ist durch Jesus Christus entstanden.« (8,6) »Wir ertragen alles.« (9,21)
»Ich bin allen alles geworden.« (9,22) »Was ihr auch tut, tut alles zu Gottes Ehre.« (10,31)
»Es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen« (12,6)
»Dies alles aber wirkt derselbe eine Geist, der einem jeden das Seine zuteilt, wie er will.« (12,11)
»Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.« (13,7)
»Auf dass Gott sei alles in allem.« (15,28)
Alles bitte zunächst einmal ohne wenn und aber. Lebensmöglichkeiten und Kreativität ohne Grenzen.
Die dem allen entsprechende Haltung ist: Wo können wir noch Gottes Leben und Liebe Gestalt gewinnen lassen, welche Unmöglichkeiten wagen? Die dem allen entsprechende Freude an der Lebensfülle sucht nicht nach Einschränkungen und dem Haar in der Suppe, sondern genießt die moralfreie überfließende Gnade.
Das haben auch die Christ*innen in Korinth verstanden und in Anspruch genommen. Sie haben Paulus Botschaft der Allwirksamkeit Gottes beim Wort genommen, Lebenswege zu eröffnen, wo gesellschaftlich zuvor nur Unfreiheit vorgesehen war.
Ich weiß, ihr habt das »Aber immer schon mitgelesen. Ich kann es nicht übergehen. Nun denn: »Aber nicht alles ist zuträglich.« Beim ersten »alles ist erlaubt« ist gemeint, aber nicht der Beischlaf mit einer Prostituierten. Beim zweiten »alles ist erlaubt« ist gemeint, aber nicht die Rücksichtslosigkeit denen gegenüber, die Hemmungen haben, alles Fleisch zu essen.
Es ist der Leib, der für Paulus, verbunden mit der Gestalt Jesu Christi, zum Ort der Lebensfülle geworden ist und immer mehr wird. Das »Alles« hat einen konkreten Bezugspunkt, nämlich den Körper eines jeden Christen, einer jeden Christin. Dieser Körper ist jetzt noch durch Leiden fragmentiert, aber auf dem Weg, in ganzem Glanz und voller Schönheit zu erscheinen. Und in diesem Zusammenhang tritt der Beischlaf mit einer Prostituierten, gemäß der Ankündigung Genesis 2,24, dass Mann und Frau im ein Fleisch werden, in Konkurrenz zum Einssein und Werden mit dem Leib Christi.
»Alles ist erlaubt«, aber was tun wir unseren Körpern und denen anderen an? »Alles ist erlaubt«, welche Lebensfülle erlauben wir unseren Körpern und denen anderer, und zwar nicht nur menschlichen Körpern?
Markus Hentschel
Monatsspruch April 2024
Die Außenseiterpositionen von Christ*innen heute und zur Zeit des 1. Petrusbriefes (ca. 80 n. Chr.) sind verschieden. Dennoch wirken dessen Verse zum Zusammenhang von Heiligung, Hoffnung und Diskurs – damals wie heute – womöglich ähnlich anstößig. Denn sie widersprechen – damals wie heute – zentralen Ideologemen des herrschenden kulturellen Konsenses.
1. »Herr« und Hoffnung. Der 1. Petrusbrief kennzeichnet die Existenz von Christ*innen insgesamt als Hoffnungsexistenz. Zu Beginn des Briefes heißt es programmatisch: »Gott hat uns nach seiner reichen Barmherzigkeit von neuem geboren zu lebendiger Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.«
Die Zeitrichtung der lebendigen Hoffnung geht nicht von der Gegenwart in die Zukunft, sondern umgekehrt von der Zukunft in die Gegenwart. Lebendige Hoffnung ist die Zukunft, die in der Gegenwart angekommen ist. Und zwar die Zukunft, die in Jesu Auferweckung von den Toten als Überwindung des Todes besteht. Die Lebendige Hoffnung ist die Verbundenheit mit dem auferweckten Jesus Christus.
Dieser Christus ist der ›Herr(scher)‹: nicht der Kaiser als Inbegriff einer sakralisierten imperialen Ordnung. Und es nicht abwegig, auch heute eine, wenn auch anders strukturierte, imperiale Lebensweise mit ähnlichen Zumutungen an die Loyalität ihrer Mitglieder anzusetzen. Diesem Herrn Christus zu gehorchen, bedeutet für die Protagonisten dieser imperialen Ordnung ebenso Aufstand, wie dieser Jesus, der bereits als Aufständischer hingerichtet wurde. Denn für das Römische Reich hörte der Spaß da auf, wo den gesellschaftlichen Institutionen nicht die gebührende Achtung gezollt wurde. Deren Missachtung bedeutete Gottlosigkeit und Hass des Menschengeschlechts.
Christus ist Herr nicht nur des Raums, sondern qua Hoffnung auch der Zeit: nicht mehr die Rhythmen und Feste des Reiches und dessen planender Ausgriff auf Expansion und Sicherung bestimmen die zeitliche Ordnung. Diese ist vielmehr durch das Ende des Fortschritts in der Ankunft des todüberwindenden Gottes geprägt. Nichts also wäre in der neuen christusbestimmten Logik der Zeit unsinniger als Aktivitäten zur ›Sicherung der Zukunft‹.
2. Hoffnung und Diskurs
Das Wort für den Diskurs heißt im 1. Petrusbrief »Apologie«: Antwort und Verteidigungsrede. Gut 100 Jahre nach dem 1. Petrusbrief verteidigt Tertullian die christliche Religion gegen die Vorwürfe der Gottlosigkeit und Amoralität und wirbt für die Einsichtigkeit der Lehre von der Auferstehung. Die als lebendige Hoffnung bezeichnete christliche Lebensweise ist aber nicht nur Gegenstand der Apologie, sondern im selben Maß auch deren Eröffnung. Das Antworten, Reden, Denken entsteht aus der Hoffnung als Überwindung des Todes. Die Hoffnung zeigt die Welt im Lichte Erlösung – befreit von den Gesetzen der Stärkeren und der Gewalt. Der von der lebendigen Hoffnung freigesetzte Diskurs ist, plakativ gesprochen, frei von der Herrschaft imperialer Lebensweise. Er ist für den 1. Petrusbrief darum ein egalitärer Diskurs. Alle Christ*innen sind zugelassen wie aufgefordert ihn zu verantworten (und ihn nicht an Expert*innen zu delegieren oder von ihnen okkupieren zu lassen) – auch alle Christ*innen im Evangelischen Studienwerk.
Hier zeigt sich die Grenze der Konzeption des 1. Petrusbriefes. Denn der von ihm mitgetragene egalitäre Diskurs ist an die lebendige Hoffnung in Jesus Christus als Herrn gebunden. Diese Hoffnung teilen nicht alle. Die Grenze wird ja auch in jeder Andacht zu einem Monatsspruch deutlich: Dass die Andacht auf christlicher Basis sich an alle unabhängig von ihrer religiösen Orientierung richtet und zugleich sich beteiligt am Versuch einer ausdrücklich christlichen Apologetik, im Modus des »Sanftmutes« (1. Petrus 3, 16), sprich der Gewaltfreiheit.
Ich hoffe, auch anders Denkenden und (Nicht)Glaubenden verstelle ich durch die Weise meiner Rede nicht den Zugang zu dem, was ich meine, christlich verantworten zu müssen.
Markus Hentschel