»Stimmung« als künstlerische Strategie im Malerbuch
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es in Frankreich zu vielfältigen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen, die sich maßgeblich auf die künstlerische Produktion auswirkten. Einerseits verringerte sich der staatliche Einfluss auf den Kunstbetrieb, indem etwa 1880 der Salon de Paris (seinerzeit eine der bedeutendsten internationalen Kunstausstellungen) zum letzten Mal unter staatlicher Federführung stattfand, während er seither von der 1881 gegründeten unabhängigen Société des Artistes Français verantwortet wird. Zudem etablierten sich neben der offiziellen École des Beaux-Arts auch privat geführte Institutionen wie die Académie Julian, an der sich von der École abgelehnte Bewerber ausbilden lassen konnten.
Andererseits kam es angesichts neuer industrieller Produktionsmöglichkeiten sowohl anlässlich der in Paris abgehaltenen Weltausstellungen als auch zur Ankurbelung der Wirtschaft nach dem verlorenen Krieg 1870/71 zu einer gezielten staatlichen Förderung des Kunsthandwerks. Die Veränderungen der Ausbildungs-, Förderungs- und Ausstellungsbedingungen warfen Fragen nach der Beziehung von freier und angewandter Kunst sowie dem grundsätzlichen Verhältnis von Kunst und Gesellschaft auf. In der Folge rückten die emotionale Verfasstheit des Künstlers selbst sowie deren (Selbst-)Reflexion – für sich stehend, aber auch eingebettet in bisherige Darstellungstraditionen überzeitlicher Seelenzustände und gesellschaftlicher Stimmungen – in den Fokus der Bildenden Kunst. In ihrem Streben nach neuen Kunstkonzepten entdeckten die Künstler der Klassischen Moderne um 1900 das kunstvoll gestaltete und illustrierte Buch als Instrument zur Erprobung neuer Ausdrucksmöglichkeiten für sich.
Das Seminar wird anhand konkreter Beispiele der Fragestellung nachgehen, auf welche Weise verschiedene in Frankreich und Deutschland tätige Künstler der Moderne die in der jeweiligen literarischen Vorlage evozierten Gefühlszustände in der Gestaltung des Buches aufgriffen und welche Strategien sie dabei verwendeten, um eine dem Sujet angemessene Bildsprache zu entwickeln, die zugleich die eigene Position thematisiert. Neben der künstlerischen Gestaltung der Buchseiten werden wir uns mit den zeitgenössischen Produktionsbedingungen der Buchherstellung sowie Praktiken künstlerischer Druckgrafik beschäftigen und der Frage nachgehen, welche Rolle den technischen Voraussetzungen bei der Inszenierung des Buches als materiellem Träger von Emotionen zukommt. Aus medialer Sicht zwischen bibliophilem Objekt und musealem Ausstellungsstück stehend, werden wir zudem beleuchten, inwiefern die Künstler die Praktiken des Sammelns und Ausstellens als mit der Zuschreibung emotionaler Wertigkeit verbundene kulturelle Rahmenhandlungen bei der Konzeption ihrer Malerbücher einbezogen. In diesem Zusammenhang ist eine Exkursion vorgesehen.
Die Teilnahme ist mit dem Halten eines Impulsreferats und vorbereitender Lektüre verbunden.
Seminarleitung: Christine Schwitay, Prof. Dr. Viola Hildebrand-Schat
Anmeldestart und Anmeldeschluss: Wird im Intranet bekannt gegeben