Genozid in Ruanda – Entstehung und Aufarbeitung
Von Anfang April bis Mitte Juli 1994 wurden im ost-/zentralafrikanischen Ruanda durch die Bevölkerungsmehrheit der Hutu schätzungsweise 800.000 bis 1.000.000 Tutsi sowie oppositionelle Hutu ermordet. Die Täter*innen kamen dabei aus der Armee, der Polizei, aus Milizen und Spezialeinheiten, aber auch aus der Zivilbevölkerung. Zu Opfern wurden alle als Tutsi Identifizierten sowie diejenigen Hutu, die sich einer aktiven Beteiligung aktiv entzogen oder gar Widerstand leisteten. Trotz einer UN-Mission im Land und frühzeitigen Warnungen blieb die internationale Gemeinschaft untätig. Der »Genozid der hundert Tage« wurde erst durch den Sieg der Rebellenarmee Ruandische Patriotische Front im Bürgerkrieg gegen die Regierungstruppen beendet.
Etwa drei Viertel der ruandischen Tutsi-Bevölkerung fielen dem Genozid zum Opfer. Gleichzeitig übernahm mit der Ruandischen Patriotischen Front und deren Anführer Paul Kagame eine von Tutsi-Flüchtlingen gegründete Armee die Herrschaft im Land und hat sie bis heute inne. Ruanda gilt als »erfolgreiche Entwicklungsautokratie«. Die rechtliche, soziale und politische Aufarbeitung des Genozids gestaltet sich bis heute schwierig. Vor allem aus der Not heraus, dass die nationalen Gerichte die schiere Masse an Genozidtäter*innen nicht bewältigen konnten – nur 20 der zuvor rund 800 Richter*innen überlebten den Genozid –, wurde eine auf traditionellen Institutionen basierende Gacaca-Gerichtsbarkeit eingeführt, bei der lokale Dorfgemeinschaften die Rolle der Gerichte übernahmen. Die Bezeichnungen Hutu und Tutsi sind heute verboten. Politische Opposition wird in Ruanda systematisch unterdrückt, die Freiheit der Meinung und der Presse ist nur sehr eingeschränkt gegeben. In den Indizes für Demokratie, Stabilität, Korruption, Presse- und Freiheitsrechte schneidet Ruanda sehr schlecht ab.
Im Seminar sollen in einem interdisziplinären und multiperspektivischen Zugriff (Geschichte, Sozialpsychologie, Kultur- und Literaturwissenschaften, Gewalt- und Genozidforschung) die historischen, bis in die Kolonialzeit zurückreichenden Hintergründe des Gewaltgeschehens sowie Aspekte der »Ethnisierung« und der entlang ethnischer Differenzlinien verlaufenden Politisierung ethnischer Identitäten in Ruanda diskutiert werden. Erörtert werden dabei Fragen nach
- motivierenden und/oder mobilisierenden Aspekten wie »Hass«,
- Funktionen der spezifischen Gewaltformen, die ausgeübt wurden, und ihrer semantischen Aufladung,
- der internationalen Dimension des Ereignisses – Rolle der UN sowie von Einzelstaaten (USA, Frankreich, Deutschland …),
- der juristischen sowie politisch-sozialen Aufarbeitung des Völkermords.
Außerdem sollen Beispiele der Thematisierung dieses Genozids in Literatur und Film untersucht werden. Eine besondere Aufmerksamkeit soll auch den Selbstzeugnissen von Überlebenden, aber auch denen von Täter*innen gewidmet werden. Dabei möchte das Seminar anhand des Beispiels Ruanda nicht zuletzt Aspekte der Formierung genozidaler Gesellschaften beleuchten.
Als Arbeitsformate sind Impulsvorträge, Gruppenarbeit und Kurzvorträge der Teilnehmenden sowie nicht zuletzt intensive, auf Text und Filmmaterial gestützte Diskussionen in den Seminarsitzungen vorgesehen.
Seminarleitung: Prof. Dr. Kristin Platt; Dr. Medardus Brehl
Anmeldestart und Anmeldeschluss: Wird im Intranet bekannt gegeben