D4 | »Was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war …« Ernst Blochs Ontologie des Noch-nicht-Seins
»Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst […] Der Mensch also wird hier verstanden und angezeigt als etwas, das sich selber noch unmittelbar, grundhaft verdunkelt, ja noch gar nicht gegenwärtig ist […] Mit seiner ganzen Welt noch auf Fahrt befindlich, die Order ist noch nirgends ausgemacht, doch in der Entdeckungsfahrt ihrer selbst möglicherweise erhellbar, ja überhaupt erst bildbar.«
Im geplanten Lektüreseminar zur Philosophie von Ernst Bloch (1885–1977) geht es um menschliches als utopisches, von Hunger getriebenes und auf Hoffnung ausgerichtetes Denken, wobei dessen Bedeutung gerade in Zeiten vorherrschender Dystopien neu auszuloten ist: Tagträume vom aufrechten Gang und der Menschwerdung des Menschen, dessen Sein aufgrund des »Dunkels des gelebten Augenblicks« noch nicht feststellbar, sondern beständig auf Zukunft ausgerichtet ist, bilden Kern und Material des Utopischen. Von Kindheit an antizipieren wir Unfertiges, Unerfülltes, Noch-Ausstehendes, vermittelt durch Träume, Fantasien, Erzählungen, Kunstwerke. Bloch zufolge durchzieht der Geist der Utopie jedoch auch Realgeschichte und Naturbilder, gilt doch in seiner Lesart für die Welt insgesamt, dass ihre wirkliche Genesis nicht am Anfang, sondern am Ende ist.
Welche geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und philosophischen Ziele hat eine darauf gegründete Ontologie als Lehre von den Grundlagen und Strukturen des Seins? Was unterscheidet eine konkrete, gelehrte Hoffnung von einer abstrakten, schwärmerischen Utopie? Welche Chancen – und Gefahren – haben positive Utopien heute überhaupt noch in einer Welt
voller heilloser Festlegungen und (un)berechenbarer Katastrophenszenarien? Und wie verhält sich Blochs marxistisch geprägte Enderwartung eines
Reiches ohne Gott zur christlichen Eschatologie – die ohne Zweifel wesentliche Impulse von ihm erhalten hat – mit ihren eigenen Bildwelten, speziellen Inhalten und Erwartungshorizonten?
Die Teilnahme am Seminar steht allen Interessierten offen. Philosophische Vorkenntnisse sind nicht erforderlich, wohl aber die Bereitschaft, sich intensiv mit gehaltvollen, in einer speziellen (und reizvollen!) expressionistischen Sprache verfassten Texten zu beschäftigen. Die Überschrift der Ausschreibung zitiert den letzten Satz aus Blochs Hauptwerk »Das Prinzip Hoffnung«. Wir werden überwiegend Auszüge aus diesem Werk lesen.
Ein Reader wird vorab an alle angemeldeten Teilnehmer*innen verschickt. Ferner ist eine Tagesreferentin (voraussichtlich Prof. Dr. Petra Gehring) für einen Vortrag zum Verhältnis von »Traum und Wirklichkeit« angefragt. Außerdem ist eine abendliche / nächtliche Lesung utopischer Texte aus Bibel und/oder Belletristik geplant.
Seminarleitung: Prof. Dr. Knut Berner, Prof. Dr. Heiko Schulz
Die Anmeldung erfolgt über das Intranet.