Sommeruniversität 2024

Das Jahresthema 2024 lautet »noch«. Während der Sommeruniversität setzen sich die Stipendiat*innen in 24 Seminaren mit Aspekten des »immer noch«, »dennoch« und »noch nicht« auseinander. Die Frage, wie man eine Kathedrale baut, kann dabei ebenso diskutiert werden wie Einsatzgebiete der Tiefseeforschung.

Die Seminarwochen werden an unterschiedlichen Orten stattfinden. Im März ist die Frühjahrsakademie in der Jugendherberge in Freiburg zu Gast. Im August reist die Sommeruni zunächst nach Haus Altenberg in Odenthal, um danach den Campus in Haus Villigst zu eröffnen, und im September findet die letzte Seminarwoche der Sommeruniversität in der Schlossjugendherberge Wittenberg statt. Die Sommeruniversität lebt von einem Austausch über Disziplingrenzen hinweg. Es sind daher Villigster*innen aller Fachrichtungen und Semester – aktuell Studierende, Promovierende und Ehemalige – dazu eingeladen, den Seminarfragen Beachtung zu schenken und untereinander ins Gespräch zu kommen.

Übersicht der Seminare 2024 nach Rubriken

Jahresthema 2024: »noch«

Die Tür fällt mit einem lauten Knall ins Schloss.
Endlich zu Hause, entspannen. Erstmal auf die Couch.
Da liegen noch Chips von gestern. Laptop an. Griff in die Tüte, lautes Knistern.
»Immer noch brodelt der Konflikt …« Knistern.
»Die Konferenz konnte noch nicht zu einer Lösung finden …« Knistern.
»Weder die eine noch die andere Konfliktpartei war bereit …« Knistern.

»Dennoch bemühen sich die örtlichen Kräfte …« Knistern
Ich drifte mit den Gedanken ab. Was kann ich jetzt noch tun? Noch tun? Noch? Noch.

»Immer noch« – Kontinuität, Festhalten an Altbewährtem, das Behüten von Traditionen. Beständigkeit kann Orientierung geben und einen sicheren Rahmen schaffen, in Zeiten, in denen das Außen einem besonders starken Wandel unterliegt. Christliche Rituale können – allen Säkularisierungstendenzen zum Trotz – auch Kirchenfernen immer noch Halt bieten. Ein An-etwas- Festhalten impliziert aber auch ein »weiter so«, kann Fortschritt verhindern, den Stillstand konservieren und reaktionäre Kräfte stärken. Zurückgewandtheit kann dazu führen, dass sich zurückliegende Dinge, die zum Abschluss kommen und kommen müssten, in die Gegenwart fortsetzen. Wie nachhaltig können Reformprozesse (auch im kirchlichen Kontext) sein, wenn sie von starren Macht- und Entscheidungsstrukturen blockiert werden?

Immer noch sehen sich Menschen als Krone der Schöpfung; im Recht, die Welt und die auf ihr befindlichen planetaren Lebensformen nach ihren Vorstellungen zu nutzen? Wie kann ein harmonisches Zusammenleben zwischen Mensch und Tier bei anhaltender Urbanisierung und schrumpfenden Lebensräumen gestaltet werden? Sei es in Umgestaltung ganzer Landstriche im Rahmen der Green Wall in Sahel oder der Errichtung von Nationalparks in Albanien. Und wie könnte eine Landwirtschaft gestaltet werden, die suffizient genug ist, die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung sicherzustellen, und gleichzeitig die planetaren Grenzen achtet?

Mit Blick in die Geschichtsbücher lässt sich fragen, was ist heute immer noch aktuell? In der Antike spielte das gesellschaftliche Bild einer Person, der Pheme, zu dem neben Prestige und Lob auch Leumund und üble Nachrede zählten, eine wichtige Rolle. Mündlich überlieferte Erzählungen, Tratsch und Gerüchte, waren nicht verpönt, vielmehr hatten sie eine wichtige integrative Funktion und boten Orte für Konfrontation und Konflikt. Was kann uns die Bedeutung der Pheme in der Antike über den heutigen Umgang mit Meinungsfreiheit und Cancel-Culture lehren?

»Noch nicht« – jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um den Blick nach vorn zu richten, zur Lösung der Probleme. Zu den Dingen, die »noch nicht«, aber vielleicht bald Realität sein werden. Es geht um die Veränderungen, die wir erhoffen, erwarten oder auch fürchten.

Die Digitalisierung findet sich in vielen Wahlprogrammen, trotzdem braucht es heutzutage noch 36.000 Blätter Papier, um drei Windräder bei den Behörden zu beantragen. Aber wie soll eine digitale Verwaltung in Zukunft aussehen? Wie könnte die Optimierung bürokratischer Prozesse einen Beitrag zur Energiewende leisten? Digitalisierungsprozesse haben in den letzten zwei Jahren stark zugenommen, beispielsweise in der Bildung mit der Implementierung des Online-Unterrichts. Wie kann auf solchen Prozessen aufgebaut werden?

Krebs und Autoimmunerkrankungen sind weitverbreitete Krankheiten mit schlechten Prognosen. Wo liegen die Perspektiven und Möglichkeiten der genbasierten individualisierten Therapie? Welche Rolle könnte die »Click-Chemie« bei der Synthese neuer Arzneistoffe spielen?

Die Fähigkeit, Emotionen und Meinungen über Bilder, Theater oder Musik auszudrücken, scheint den Menschen besonders auszuzeichnen. Seit kurzem können Drehbücher oder Kunstwerke mithilfe von textbasierten Dialogsystemen erschaffen werden, die auf maschinellem Lernen beruhen. In Sekunden, teilweise nicht von menschlichen Werken zu unterscheiden. Welche Veränderungen des Kunstmarkts sind hier denkbar? Wie werden sich kreative Prozesse in Zukunft gestalten? Welche menschlichen Arbeitsprozesse werden redundant, welche werden neu entstehen?

»Weder … noch« – zum einen spricht daraus Uneindeutigkeit, weil kein deutliches Urteil, kein deutliches Ergebnis möglich ist. Zum anderen könnte es Befreiung bedeuten, weil man sich nicht für eine Seite entscheidet, sondern eine dritte Alternative, eine neue Möglichkeit wählt oder findet, die bisher unsichtbar sowie unlogisch schien.

Wie können neue Möglichkeiten aus sozialer, ethischer, religiöser Perspektive geschaffen werden? »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.« Paulinische Christologie bietet auch interdisziplinär Ansatzmöglichkeiten, z. B. Kritik soziokultureller Normen und Werte oder einen historischen Rückblick auf multiple Identitäten im Frühchristentum des 2. / 3. Jahrhunderts. Steht vor dem Stadttribunal entweder nur ein Römer oder nur ein Christ? Oder entwickelte sich vielleicht eine dritte neue Identität?

Sogar Theorien der Mathematik bleiben zeitweise uneindeutig. Mathematische Wahrheiten erscheinen endgültig. Allerdings muss dem nicht so sein, denn schon vor 100 Jahren erschütterte Kurt Gödel das Fundament seiner Wissenschaft: In den Axiomen eines SOMMERUNIVERSITÄT 2024 | THEMA 28 Systems sind Widersprüche niemals auszuschließen und manches ist gar unbeweisbar. Was bedeutet Gödels Theorie für angrenzende Wissenschaften, unseren Alltag und unser menschliches Wahrheitsverständnis?

Soziale Medien sind weder nur schädlich noch nur förderlich für das menschliche Zusammenleben, sind weder Fluch noch Segen. Instagram ermöglicht uns, mehr von der Welt mitzubekommen, uns zu vernetzen, aktiv zu werden, und schafft Sichtbarkeit für Perspektiven, die sonst ungenannt bleiben. Dabei spielt die Anwendung der Nutzer*innen und Konsument*innen eine wichtige Rolle: politischer und erfolgreicher Aktivismus vom Schreibtisch aus, Verlust der Konzentrationsfähigkeit durch Ablenkung oder hilfreiche Tutorials für alle Generationen, die Teil der Digitalisierung sind. Trotzdem stellt sich aus dieser Perspektive die Frage, wer und wo sind wir, wenn wir uns zwischen physischer und virtueller Realität bewegen? Werden wir entzweigerissen oder bildet sich auch hier eine neue und hilfreiche Form menschlicher Existenz und sozialen Miteinanders heraus?

»Dennoch« – da ist ein schroffes Trotzdem. Eine Opposition, die sich auflehnt, ein Widerstand, der bleibt, ein Protest, der sich bildet.

Als sich in den 1980er Jahren lesbische Frauen in Ost- Berlin politisch organisieren wollten, war dies nur in der Kirche möglich. Obwohl auch in der Kirche zuweilen eine diskriminierende Haltung herrschte und nicht alle Mitglieder des Arbeitskreises gläubig waren, wurde die Evangelische Kirche dennoch für Lesben in der DDR zu einem wichtigen Ort des Widerstands. Welche Rolle kam der Evangelischen Kirche als Akteurin der Opposition in der DDR zu – und was lässt sich hieraus für Kirche heute lernen?

Die Geschichte ist vergangen, dennoch ist Erinnerungskultur zentraler Bestandteil des Jetzt. Während die einen die Bedeutung von emotionalen Zugängen insbesondere zur politischen Bildung schätzen, z. B. beim Besuch von Gedenkstätten, fürchten andere die Zunahme an »gefühlten Fakten« und einer emotionalisierten Debattenkultur. Welche Rolle spielt Emotionalisierung in der Verbreitung und Entstehung von Wissen, von Fakten und Fake News? Gerade in der politischen Lösungsfindung gewinnen emotionalisierte Debatten dort an Bedeutung, wo belegbare Zahlen fehlen, ein Beispiel ist die Entstehung und Anpassung des Prostituiertenschutzgesetzes in Deutschland – wie konstruieren sich aus emotional geführten Beiträgen Argumente und welche Gesetze können daraus folgen? Und welche Emotionen innerhalb von Debatten werden allein schon aufgrund konkreter Wortverwendungen geweckt und genutzt?

Gerade in der Kunst wird das »Dennoch« immer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Debatten um kontroverse Künstler*innen und Kunstwerke, die Performance-Kunst von Marina Abramovic´ , Fotografien von Andres Serrano oder Gemälde wie »Myra« von Marcus Harvey stoßen Debatten darüber an, ob sie dennoch ausgestellt werden dürfen, und stellen bereits in sich ein »Dennoch« dar. Dabei steht auch immer die Frage im Raum, ob Künstler*innen oder Rezipient*innen in Verantwortung sind. Welche Rolle spielen derartige Kunstwerke für die Gesellschaft und wie ist mit diesen durch die verschiedenen Akteure umzugehen?

»Nochmal die Forderung nach …« Knistern.

»Noch mehr Dividenden für …« Knistern.

Noch mehr. Noch mehr … ein unbefriedigender Griff in die Packung. Die Finger irren suchend herum. Leere.

Der Laptop wird schwarz. Akku alle. Verdammt nochmal! Stille.

Immer wieder »noch«. 36 Mal in diesem Text. Was hast du noch für Ideen? 

Der stipendiatische Programmausschuss